"Zu lange weggeschaut" Prinz Reuß und seine "Reichsbürger" - alles Spinner?


Das "Reichsbürger"-Netzwerk um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll kaum weniger als den Umsturz Deutschlands geplant haben. Der mutmaßliche Putsch-Plan, gespickt von Verschwörungstheorien, lässt schnell den Eindruck von verirrten Rentnern entstehen. Doch dieses Image ist weit verfehlt.
Ein 72-jähriger Immobilienunternehmer aus Hessen ist fest entschlossen, die Bundesregierung zu stürzen und einen eigenen Staat zu schaffen. Dafür warten er und seine Anhänger - überwiegend Männer zwischen 40 und 70 - auf einen gewissen Tag X. An diesem Tag, so denkt die Gruppe, erhält sie ein Signal von einer in Wirklichkeit nicht existierenden Allianz. Vorbei an Polizisten und Sicherheitspersonal wollen sie dann den Reichstag stürmen und Abgeordnete festnehmen. Dafür sind sie schließlich bis unter die Zähne bewaffnet. Anschließend, so denken sie, werden die 83 Millionen Menschen in Deutschland von ihnen regiert. Mittels eines eigens konstruierten, autoritären Regimes, an dessen Spitze der jetzige Immobilienmogul steht.
Das, was die Generalbundesanwaltschaft dem "Reichsbürgernetzwerk" um Heinrich XIII. Prinz Reuß vorwirft, klingt zweifellos bizarr, wenn nicht sogar vollkommen absurd. Dass sich in der Berichterstattung über die Gruppe stets ein Augenzwinkern findet, überrascht daher kaum: Etliche Male wird der Unternehmer und mutmaßliche Rädelsführer als "Putsch-Prinz" tituliert, der Begriff "Spinner" wabert im Zusammenhang mit seinem Netzwerk durch die Medien. Selbst die rechte Szene scheint die Gruppe zu belächeln, AfD-Chefin Alice Weidel sprach einst von einem "Rollator-Putsch". Vor diesem Hintergrund könnte das Bild von verirrten, mit Sicherheit größenwahnsinnigen, aber im Grunde harmlosen Rentnern entstehen. Dass der Eindruck trügt, zeigt spätestens der Umgang des Staates mit der Gruppe.
So steckt die deutsche Justiz in den kommenden Monaten, wahrscheinlich Jahren, einen großen Teil ihrer Ressourcen in den sogenannten Putsch-Prinzen und seine Anhänger. Die juristische Aufarbeitung ihrer mutmaßlichen Pläne ist eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Hinsichtlich der Dimension wurde das Mammutverfahren in drei Prozesse geteilt: Den Auftakt machte das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart Ende April - ab morgen muss sich auch die mutmaßliche Führungsriege vor dem OLG Frankfurt verantworten. In diesem Verfahren sitzen neun Männer und Frauen auf der Anklagebank, unter ihnen die wohl bekanntesten Mitglieder der Reuß-Gruppe: Heinrich XIII. Prinz Reuß selbst, die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann und der frühere Bundeswehr-Kommandeur Rüdiger von Pescatore.
Dem Bösen etwas entgegenstellen
Da kein Gerichtssaal den enormen Größenanforderungen des Frankfurter Prozesses entsprach, wurde kurzerhand eine neue Leichtbauhalle an den Stadtrand gebaut. Gesichert wird das gesamte Gelände durch NATO-Draht, verhandelt wird hinter Panzerglas. 45 Wachtmeister sichern jeden einzelnen Prozesstag. Kurzum: Der Sicherheitsstandard könnte kaum höher sein. Die in Frankfurt Angeklagten haben ihre obskuren Fantasien nie umgesetzt, von ihnen wurde niemand verletzt, entführt oder gar getötet. Dass die Kraftanstrengungen des Staates trotzdem immens sind, hat gute Gründe.
"Reichsbürger" gehen davon aus, dass Deutschland kein souveräner Staat sei. Die freiheitlich demokratische Ordnung lehnen sie daher ab oder mehr noch: Sie verachten den Rechtsstaat, streben nach ihrem eigenen staatlichen System. Außerdem glauben sie nicht, dass Politikerinnen und Politiker das Land regieren. Vielmehr sind diese aus ihrer Sicht die Marionetten eines sogenannten Deep States - eine Verschwörung, die Deutschland aus dem Verborgenen heraus kontrolliert und sich gegen die deutsche Bevölkerung richtet.
Das Center for Monitoring, Analyse und Strategie ordnet die Szene dem verschwörungsideologischen Souveränismus zu. Gefährlich werde sie in dem Moment, "wenn aus diesem Glauben Handlungen entstehen", erklärt Miro Dittrich, Rechtsextremismusforscher beim CEMAS. In ihrer Vorstellung müssten die "Reichsbürger" dem Bösen etwas entgegenstellen. "Ob das nun mit dem Gesetz vereinbar ist oder nicht."
Die Bedeutung der "letzten Entscheidungsschlacht"
Zu den harmloseren Maßnahmen zählen sicherlich die mittlerweile bekannten eigenen Pässe, die sich viele "Reichsbürger" ausstellen, um ihre Selbstständigkeit zu demonstrieren. In eine ähnliche Kategorie fällt es, Steuerzahlungen oder Verkehrskontrollen zu verweigern. Allerdings ist dies nicht die Grenze - im Gegenteil.
Der Einsatz von Gewalt sei in der Ideologie der Souveränisten sogar angelegt, heißt es in einem CEMAS-Bericht aus dem vergangenen Jahr. Demnach glauben sie an "eine letzte Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten des Guten und des Bösen". Ihrer Annahme zufolge ist es ein Kampf um alles oder nichts: Am Ende steht entweder die Erlösung oder die Vernichtung der eigenen Gruppe. Auf diesem Wege werde Gewalt legitimiert, analysieren die Politikwissenschaftler.
Dass Vertretern der "Reichsbürger"-Szene durchaus jedes Mittel recht ist, hat sich in der Vergangenheit bereits gezeigt. 2016 etwa erschoss ein "Reichsbürger" einen Polizisten im bayerischen Georgensgmünd, als Beamte zu einer Waffenkonfiszierung anrückten. Auch ein Angeklagter der Reuß-Gruppe zögerte nicht, zur Waffe zu greifen und auf Polizisten zu zielen, als diese seine Wohnung durchsuchten. Er ist als einziger der Gruppe zusätzlich wegen versuchten Mordes angeklagt.
Rekrutierung in den Sicherheitsbehörden
"Viele dieser Menschen sehen sich im Krieg mit den Besatzern", sagt Rechtsextremismus-Experte Dittrich. Vertreter des Staates, beispielsweise Polizisten, seien in ihren Augen lediglich Marionetten dieser Besatzer - ihnen gilt es Widerstand zu leisten. "Bei der Reuß-Gruppe sehen wir allerdings eine Fortführung des Ganzen", betont der Experte. "Laut Anklage ging es ihnen nicht nur um Widerstand. Sie wollten aktiv werden. Sie wollten die geglaubte Besatzung mittels terroristischer Taten absetzen."
Tatsächlich geht die Generalbundesanwaltschaft davon aus, dass Reuß und seine Anhänger Tote und Verletzte in Kauf nahmen. Und nicht nur das: Laut der Anklage wurden konkrete Feindeslisten und Pläne über "Säuberungsaktionen" bei der Gruppe gefunden. Erst kürzlich gab einer der Angeklagten zu, bereits die Gänge unter dem Bundestag ausgespäht zu haben. Zudem verfügte das Netzwerk offenbar über ein gut ausgestattetes Waffenarsenal.
Nun hält sich die Gefahr durch das bloße Anhäufen von Waffen in Grenzen. Dittrich weist daher auf eine besonders besorgniserregende Entwicklung hin: "Wir beobachten schon länger, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger - Menschen, die den Staat stürzen wollen - durchaus Rekrutierungspotenzial in den deutschen Sicherheitsbehörden haben." Es gehe gezielt darum, Leute mit Waffenerfahrung für das Vorhaben zu gewinnen.
Die Zahlen steigen
Im Fall der Reuß-Gruppe scheint dies gelungen zu sein: Laut Anklage waren neben zwei Polizisten auch mehrere ehemalige Soldaten in die Pläne involviert. Sie unterhielten demnach gute Verbindungen zum KSK, der Eliteeinheit der Bundeswehr. Möglich seien Verbindungen wie jene auch, so Dittrich, "weil gerade bei diesem Problem zu lange weggeschaut worden ist".
Tatsächlich ist das Gefährdungspotenzial der "Reichsbürger"-Szene erst in den vergangenen Jahren in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Sorgen bereitet den Verfassungsschutzbehörden dabei vor allem das kontinuierliche Wachstum des Milieus: Für 2022 rechnet das Bundesamt für Verfassungsschutz ihm rund 23.000 Menschen zu. Damit hat sich die Zahl seit 2016 mehr als verdoppelt.
Die Politikwissenschaftler von CEMAS gehen sogar von einer noch deutlich höheren Zahl aus. Denn der Verfassungsschutz zähle ausschließlich die bewiesenen Fälle, erklärt Dittrich. Allein die Reichweite einschlägiger Telegram-Kanäle deuteten demnach auf deutlich mehr Menschen hin, bei denen die Weltanschauung verfängt.
Zwei große Netzwerke
Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Corona-Pandemie. Für die Szene war die Zeit so etwas wie ein Boost, wie die Politikwissenschaftler von CEMAS analysierten. Zum einen verfingen die Verschwörungen um Fäden ziehende Eliten in Zeiten von Lockdowns, Inzidenzen und großer Unsicherheit besser. Zum anderen boten die Querdenken-Proteste der Szene gute Plattformen zur Verbreitung ihrer Ideologie.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass in der Pandemie gleich zwei große "Reichsbürger"-Netzwerke entstanden. Parallel zur Reuß-Gruppe, die sich selbst Patriotische Union nennt, bildete sich im Herbst 2021 das Netzwerk der Vereinten Patrioten. Auch sie sollen einen Umsturz der deutschen Regierung geplant haben, auch Mitglieder ihrer Gruppe stehen nun wegen Terrorvorwürfen vor Gericht.
Laut Anklage planten die Vereinten Patrioten einen großflächigen Stromausfall und die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Dies sollte, so die Idee, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und schließlich der Einführung einer neuen Verfassung nach dem Vorbild des Kaiserreichs führen.
Was die Ermittler auf Reuß' Spur brachte
In den Details ihrer mutmaßlichen Umsturzpläne mögen sie sich unterscheiden, doch die Parallelen der Reuß-Anhänger und der Vereinten Patrioten in den wesentlichen Punkten sind kaum zu übersehen: Laut Anklage spekulierten beide Gruppen auf einen bestimmten Tag in der Zukunft, an dem die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht und sie schließlich die Macht übernehmen. In beiden Gruppen waren Ex-Soldaten vertreten, beide Gruppen waren bestens vernetzt in rechtsextreme Kreise. Auch gab es sowohl bei der Patriotischen Union als auch bei den Vereinten Patrioten eine Art Führungsperson - was Heinrich XIII. Prinz Reuß für erste war, soll die 76-jährige Elisabeth S. für letztere gewesen sein.
Dass die beiden - mutmaßlich militanten - Gruppen in Kontakt standen, zeigt sich derzeit im Prozess gegen die Mitglieder der Vereinten Patrioten am OLG Koblenz. So kam im Verfahren etwa ein Telefonat zwischen Mitgliedern beider Netzwerke zur Sprache - gemeinsam soll die baldige "Befreiung der ganzen Nation" bejubelt worden sein. Am Ende war es offenbar sogar diese Verbindung, die die Reuß-Gruppe auffliegen ließ: Mitglieder hätten versucht, kampferprobte Männer der Vereinten Patrioten abzuwerben. Erst so seien sie auf den Schirm der Ermittler gekommen.
Keine harmlosen Spinner
Deutlich wird: Beide Gruppen waren in den Vorbereitungen auf mutmaßliche Umsturzpläne weit fortgeschritten, hatten eine enorme Größe, Verbindungen ins Militär und Waffen. "Man hat eigentlich nur noch auf den Moment gewartet, in dem man zuschlagen will", fasst Dittrich es zusammen. "Damit stand der deutsche Staat vor einer durchaus beachtlichen terroristischen Bedrohung".
Wie hoch das konkrete Gefährdungspotenzial der Netzwerke war, müssen die Oberlandesgerichte entscheiden. Dass die deutsche Demokratie zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich bedroht war, darf bezweifelt werden. Allerdings wird den Gruppen - das deuten die Details der Anklage bereits an - auch das Image der verirrten, aber harmlosen Rentner keineswegs gerecht. Denn: Wer Gewalttaten plant und diese vorbereitet, ist nicht bloß ein harmloser Spinner, sondern - zumindest auch - eine echte Gefahr für Menschenleben.
Quelle: ntv.de