Interview mit Stefan Aust Bad Kleinen und der letzte Mythos der RAF
27.06.2013, 10:02 Uhr
Polizeibeamte suchen nach Patronenhülsen und anderen Spuren, um den umstrittenen Ablauf des GSG9-Einsatzes aufzuklären.
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Eigentlich ist es ein großer Coup: Im Juni 1993 fasst die GSG9 in Bad Kleinen zwei führende RAF-Terroristen. Doch aufgrund einer unglaublichen Pannenserie gerät der Einsatz zum Desaster. Wer den tödlichen Schuss auf RAF-Mann Wolfgang Grams abgab, ist lange unklar. Und dann ist da noch die Sache mit dem V-Mann.

Eine Episode in der 28-jährigen Geschichte der RAF: die 3600-Einwohner-Gemeinde Bad Kleinen.
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n-tv.de: Im Juni 1993 fasste ein Sondereinsatzkommando in Bad Kleinen die beiden gesuchten RAF-Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. Warum ist der Einsatz bis heute so umstritten und gilt bei manchen sogar als letzter Mythos der RAF?
Stefan Aust: Dem Verfassungsschutz war es damals das erste Mal gelungen, mit Klaus Steinmetz einen Agenten in die RAF einzuschleusen. Man hat vor und nach dem Einsatz in Bad Kleinen versucht, diese Geschichte geheim zu halten. Man muss sich vorstellen: Wenn man eine so zentrale Stelle, eine dritte Person, die beteiligt war, verheimlichen muss, dann ist der ganze Fall nicht mehr wahrheitsgemäß darzustellen. Auch während des Einsatzes ist einiges aus dem Ruder gelaufen. Der Bahnhof war relativ ungeeignet für einen Einsatz. Ein GSG9-Beamter hatte eine Information falsch verstanden, ist die Treppe zum Tunnel heruntergelaufen und dann gab es eine Schießerei. Bei dieser Gelegenheit ist es Wolfgang Grams gelungen, einen Polizisten niederzuschießen. Auch er selbst ist schließlich getroffen auf die Gleise gefallen. Dann fiel plötzlich noch ein Schuss, der ihn getötet hat. Die große Frage war: War es Mord oder hat er selbst geschossen? Da sind die Mythen ins Kraut geschossen.
In Ihrem Buch "Baader-Meinhof-Komplex" schreiben Sie, Grams habe sich selbst getötet. Es gab allerdings auch Zeugen, die die Mordthese bestätigten. Der "Spiegel" hat damals aufgemacht mit dem Titel "Der Todesschuss".
Da war ich immer anderer Auffassung. Ich war damals noch bei "Spiegel TV" und nicht in die Recherchen zu dieser Geschichte eingebunden. Eine PDS-Abgeordnete rief bei uns in der Redaktion an und erzählte von einem anonymen Anruf. Jemand hätte ihr geschildert, was in Bad Kleinen passiert sei, und das würde sich decken mit dem, was im "Spiegel" steht. Wir haben das aber nicht gesendet, denn ich hatte große Zweifel daran.
Warum?

Wolfgang Grams galt als eine der wichtigsten Figuren in der dritten Generation der RAF.
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Die Aussage, die der anonyme Anrufer bei der PDS abgegeben hatte, erschien mir zu genau. Man hatte den Eindruck, dass derjenige, der das schildert, an drei Stellen gleichzeitig gewesen sein musste. Jemand, der so dicht dabei war, hätte nur ein GSG9-Mann sein können. Da habe ich mich gefragt: Gibt es GSG9-Leute, die bei der PDS anrufen würden? Bei der PDS würden wahrscheinlich nur Leute anrufen, die aus dem Osten kommen. Aber damals gab es keine Leute aus dem Osten in der GSG9. Deshalb habe ich die Geschichte nicht geglaubt und war sehr skeptisch gegenüber dieser Mordtheorie.
Es gab auch die Aussage einer Kioskbesitzerin, die aus wenigen Metern gesehen haben will, wie GSG9-Leute Grams hinrichteten.
Ja, die kenne ich auch. Es gab ein paar sehr übereifrige Reporter. Die hatten ihre These, und die haben sie der Kioskbesitzerin in einer eidesstaatlichen Versicherung aufgeschrieben. Dabei haben sie ihr ein bisschen was in den Mund gelegt, was sie später etwas leichtfertig unterschrieben hat.
Auffällig ist die große Menge an gravierenden Pannen nach dem Einsatz in Bad Kleinen: Grams Leiche wurde zu früh gewaschen und dadurch von wichtigen Spuren befreit, am Tatort wurden Patronenhülsen nicht gesichert, auch die Aussagen von GSG9-Beamten waren zum Teil widersprüchlich. Wie können so viele Fehler passieren?
Das wundert mich nicht so wahnsinnig. Ich glaube, das bei außerordentlich vielen dramatischen Aktionen, bei denen es schnell geht, die unter großer Aufregung vonstatten gehen, viele Fehler passieren. Polizeiliche Ermittlungen werden nicht immer nach dem Schulbuch abgeleistet. Ich bin nach Sichtung aller Umstände davon überzeugt, dass Grams in dieser Schrecksekunde, in der er auf den Schienen lag, selbst Schluss gemacht hat.
Nach der Todesnacht von Stammheim sprachen die RAF-Anwälte in den 70ern auch von Mord. Warum übt die RAF eine solche Anziehungskraft auf Verschwörungstheoretiker aus?
Mich wundert es nicht, dass diejenigen, die dem RAF-Sympathisantenumfeld angehören, nicht wahrhaben wollten, dass die Terroristen Selbstmord begangen haben. Stattdessen wollten sie es, als letzte Rache am Staat, zumindest so aussehen lassen, als seien es Morde gewesen. Bei der Todesnacht von Stammheim gibt es auch nach wie vor offene Fragen. Als ich mein Buch geschrieben habe, bin ich jeder Spur nachgegangen. Um es mal etwas zynisch zu sagen: Ein Mord wäre die bessere Geschichte gewesen. Aber wenn man sich nüchtern ohne Wunschdenken mit den Fakten beschäftigt, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit sehr viel größer ist, dass es Selbstmord war.
Nach dem Einsatz in Bad Kleinen gab es sehr viele Rücktritte, darunter auch der von Innenminister Rudolf Seiters. Stärkte das nicht den Eindruck, dass da was faul ist?
Ja, das stimmt, aber das war eine Wechselwirkung. Aufgrund der "Spiegel"-Titelgeschichte "Der Todesschuss" hat Seiters gedacht: Wenn die so präzise schreiben, wie das abgelaufen ist, dann muss das auch stimmen, und dann muss jemand die politische Verantwortung übernehmen. Deshalb ist er zurückgetreten. Er hat nicht damit gerechnet, dass diese Geschichte auf so wackligen Beinen steht. Es ist verheerend, wie sehr die Glaubwürdigkeit von Medien durch eine so windige Recherche erschüttert werden kann. Aber langfristig hat das nicht einmal dem für die falsche Geschichte verantwortlichen Journalisten Hans Leyendecker geschadet - er gilt nach wie vor als die Verkörperung des investigativen Journalismus.
Ist Steinmetz, der dritte Mann in Bad Kleinen, ein Paradebeispiel für den Einsatz von V-Leuten?
Es zeigt, wie problematisch der Einsatz von V-Männern sein kann. Gleichzeitig ist es auch ein gelungenes Beispiel. Damals hat man es geschafft, eine Person in den harten Kern der RAF einzuschleusen. Man hat vielleicht in Kauf genommen, dass er auch an Anschlägen beteiligt ist, aber immerhin hat man den damaligen RAF-Führungskader geschnappt. Mit dem Tod von Wolfgang Grams ist natürlich ein großer Schatten darauf gefallen. Besser wäre es gewesen, wenn man ihn festgenommen und vor ein Gericht gestellt hätte.
Bad Kleinen hat den Rechtsstaat erschüttert – aber hat es ihn auch verändert?
Nein, es sind nicht einzelne Ereignisse, die den Rechtsstaat verändern. Ich glaube, jede Affäre dieser Art führt dazu, dass bestimmte Dinge überdacht werden: in diesem Fall die Funktionsweise der Polizei und des Verfassungsschutzes. Das ist ein sehr prekäres Feld. Aber ich bin davon überzeugt, dass es ohne einen Geheimdienst nicht geht. Dafür muss man solche Quellen in Form von V-Männern haben. Es dürfen allerdings nicht so viele Pannen passieren wie damals - und leider heute immer noch.
Auch bei den NSU-Morden haben die Ermittlungsbehörden keine gute Figur gemacht.

Stefan Aust war von 1994 bis 2008 Chefredakteur des "Spiegel". Sein Buch "Der Baader Meinhof Komplex" gilt als Standardwerk zur Geschichte der RAF und wurde 2009 sogar verfilmt.
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Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen dem Umgang der Behörden mit linkem und rechtem Terrorismus. Die RAF hat im öffentlichen Bewusstsein eine gewaltige Rolle gespielt. Es war immer so, dass die Regierenden einen öffentlichen Kampf gegen diese Untergrundorganisation geführt haben. Das war ein wichtiges innenpolitisches Thema, was auch keiner vertuscht hat. Bei der NSU hat man es dagegen nicht wissen wollen, dass es so etwas wie eine rechte RAF gibt. Das hat man, auch was die Wahrnehmung im Ausland betrifft, so weit es geht unter den Teppich gekehrt. Mit den außerordentlich negativen Folgen, dass man bei den Ermittlungen immer in einem völlig falschen Milieu gesucht hat.
Bis Bad Kleinen gab es kaum Ermittlungserfolge bei der dritten Generation der RAF. Woran lag das?
Die RAF gab es 28 Jahre. Diejenigen, die in der dritten Generation waren, kannten die Gründer-Generation um Baader, Meinhof und Ensslin gar nicht. Durch diese lange Zeit haben die sich ein gewaltiges Know-How angeeignet und konnten aus den Fehler der vorherigen Generationen lernen. Weil sie kaum Spuren hinterlassen haben, sind viele ihrer Taten bis heute nicht aufgeklärt. Im Vergleich zu Baader und Ensslin waren das Profis, die auch nicht so ein starkes Selbstmitteilungsbedürfnis hatten. Die waren nicht so eitel. Baader hat an die Deutsche Presse Agentur einen Brief geschrieben, den er mit seinem Fingerabdruck unterzeichnet hat.
Knapp fünf Jahre nach den Ereignissen in Bad Kleinen hat sich die RAF aufgelöst. Ein später Erfolg des Einsatzes?
Ja, der Einsatz in Bad Kleinen hat immerhin dazu geführt, dass die RAF ihre wichtigsten Personen verloren hat. Der Kopf war praktisch weg. Der Rest der Bewegung war dann offenbar demoralisiert. Erstaunlicherweise hat man den Deckel erst nach 28 Jahren zugemacht und gesagt, die RAF habe sich historisch überlebt, ohne sich mit den eigenen Taten selbstkritisch und moralisch auseinanderzusetzen.
Mit Stefan Aust sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de