Planloses Gipfeln Cameron hinterlässt Chaos
29.06.2016, 09:51 Uhr
Premier David Cameron bei der Ankunft in Brüssel.
(Foto: dpa)
Was bringt ein Arbeitsabendessen mit einem Regierungschef, der längst alle Verantwortung von sich geworfen hat? Außer Sentimentalität und versteckter Wut ziemlich wenig.
Nein, David Cameron wurde nicht geschlachtet. Zum Abendessen gab es beim EU-Gipfel in Brüssel Kalbslendenbraten und Erdbeeren. Der britische Premier durfte mitessen.
Wie bei jeder anständigen Trennung erinnerten die Beteiligten an die guten Zeiten, die sie zusammen hatten. Und sie versicherten einander, auch danach Freunde zu bleiben. Wie bei so vielen Trennungen brodelte es unter der Oberfläche. So gewaltig, dass es kurz nach dem letzten gemeinsamen Abendessen dann doch noch zu einem Ausbruch kommt.
Cameron habe darauf hingewiesen, dass der Grund für das Brexit-Votum vor allem in Migrationsfragen zu suchen sei, klagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bei der Pressekonferenz der EU-Spitzen, nachdem der britische Premier schon nicht mehr zugegen war. "Das sehe ich nicht so. Wenn man über Jahre oder Jahrzehnte den Bürgern immer wieder sagt, in der EU läuft etwas schief, sie sei nur von Technokraten und Bürokraten geführt, dann darf es einen doch nicht überraschen, wenn die Wähler einem glauben."
Auf den Ausbruch folgt die große Leere. Denn die Sitzung mit Cameron hat schlicht nicht das gebracht, wonach sich Juncker und die anderen Beteiligten sehnen: mehr Klarheit.
Cameron bleibt bei seiner Haltung
Cameron versicherte noch einmal, dass er es seinem Nachfolger überlassen wolle, den Austritt aus der EU formell zu beantragen. Und erst wenn Artikel 50 des Lissabon-Vertrags aktiviert ist, läuft die Trennung in einigermaßen vorhersehbaren Bahnen.
Wie Berlin hat sich mittlerweile auch Brüssel damit abgefunden, dass die Briten noch etwas Zeit brauchen, um sich zu sortieren, und dass die EU sie nicht zwingen kann, Artikel 50 in Kraft zu setzen. Wie unbefriedigend dieser Schwebezustand angesichts der wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, der mit ihm einhergeht, ist, machte Juncker aber deutlich. "Ich dachte, dass diejenigen, die gehen wollen, auch einen Plan haben", klagte er. "Wir haben jetzt nicht Monate Zeit." In einem eher verzweifelten Versuch, so etwas wie ein geregeltes Verfahren herbeizureden, fügte der Kommissionspräsident hinzu, dass Camerons Nachfolger, so es sich um einen Vertreter des "Leave"-Lagers handeln sollte, am Tag nach seiner Kür Artikel 50 aktivieren müsse. Sollte es ein Vertreter des "Remain"-Lagers sein, blieben ihm zwei Wochen.
Auch Kanzlerin Angela Merkel versuchte, Gewissheiten zu simulieren. "Dies ist nicht die Stunde von wishful thinking", von Wunschdenken, sagte sie. "Das Referendum steht da als Realität." Und sie fügte hinzu: "Ich sehe keinen Weg, das wieder umzukehren."
Doch so klar, wie die Kanzlerin all das schildert, ist die Sache nicht. Und auch Junckers Forderung, der Cameron-Nachfolger möge am Tag nach seinem Amtsantritt ein Verfahren nach Artikel 50 anstoßen, hat keine juristische Grundlage.
Es bleibt allein die "Freundschaft unter Europäern"
Der Gipfel ändert schlicht nichts daran, dass in Großbritannien das Chaos regiert – und ganz sicher nicht Mr. Cameron. Der hat mit der Ankündigung, sein Amt zu räumen und Artikel 50 nicht selbst in Kraft zu setzen, schließlich alle Verantwortung von sich geworfen.
Wenn in Brüssel heute am zweiten Gipfeltag die Staats- und Regierungschef zu ihrem ersten Treffen ohne den Briten zusammenkommen werden, wird hinter vorgehaltener Hand vermutlich gewaltig gezetert. Schließlich hat Cameron der EU nicht nur diesen Schwebezustand beschert, sondern allein aus innenpolitischem Kalkül heraus (um die Europaskeptiker in der eigenen Partei zu besänftigen) das Referendum überhaupt. Und es dann im Wahlkampf nicht geschafft, die Brexit-Befürworter von seinem Kurs zu überzeugen.
Juncker brachte bei der Pressekonferenz nach dem Abendessen die Stimmung auf den Punkt: "Ich mag ihn als Person, obschon er mich in ganz besonderer Weise behandelt hat. Die Freundschaft bleibt." Doch er fügte hinzu: "Das ist das Einzige, was bleibt: die Freundschaft unter Europäern."
Alles ist möglich
Wie es mit den Briten weitergeht, werden die 27 Staats- und Regierungschefs wohl auch nach diesem Gipfel-Tag nicht wissen. Denn die Briten wissen es zurzeit selbst nicht.
Camerons möglicher Nachfolger, der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der nach dem Votum plötzlich so still geworden ist, tut sich, wenn er sich denn zu Wort meldet, weiterhin mit Demonstrationen seiner Realitätsverweigerung hervor. In einem Gastbeitrag für den "Telegraph" schrieb er: "Die einzige Veränderung– und sie wird nicht in großer Eile daherkommen – wird sein, dass Großbritannien sich von dem ungewöhnlichen und undurchsichtigen Regelwerk der EU befreien wird."
Bis Donnerstag hat Johnson Zeit, sich offiziell zum Kandidaten zu erklären. Ob er es dann auch wird ist, ist nicht gesetzt. Gerade formiert sich in den Reihen der Tories eine Gegenbewegung. "Anyone but Boris" (Alle außer Boris) heißt sie. Aussichtsreichste Kandidatin dieses Lagers ist die langgediente Innenministerin Theresa May, die einen politischen und charakterlichen Gegenentwurf zum unsteten Populisten Johnson darstellt. May gehört zum Lager der Konservativen, die sich trotz gewisser Euroskepsis für den Verbleib in der EU ausgesprochen haben. In der nächsten Woche wird sich die Fraktion auf zwei Kandidaten einigen. Darauf folgt eine Urwahl der Parteimitglieder. Bis spätestens Oktober dürfte dann feststehen, wer Camerons Nachfolger wird.
Johnson oder May, Brexit oder vielleicht noch ein Ausstieg aus dem Ausstieg? Nicht alles ist wahrscheinlich in Großbritannien, aber fast alles ist irgendwie möglich. Das ist wohl die einzige Gewissheit, an die man sich in Brüssel derzeit klammern kann.
Quelle: ntv.de