

Im Jahr 2011 bricht in Syrien ein Bürgerkrieg aus, der innerhalb kurzer Zeit das ganze Land in ein tiefes, blutiges Chaos stürzt. Inzwischen hat der Konflikt mehr als einer halbe Million Menschen das Leben gekostet, weite Teile des Landes sind nach kurzer Zeit völlig zerstört.
Im Jahr 2015 scheint keine Lösung in Sicht. Zahllose Rebellengruppen, die Armee des Machthabers Bashar al-Assad und die selbsternannten Gotteskrieger des sogenannten Islamischen Staats bekämpfen sich gegenseitig.
Immer mehr Menschen verlieren ihre Heimat und flüchten vor der Zerstörung, die in dem Land ein geradezu apokalyptisches Ausmaß erreicht.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht inzwischen davon aus, dass 5,6 Millionen Menschen seit dem Ausbruch des Kriegs das Land verlassen haben. Viele von ihnen sind in die Nachbarländer Jordanien und den Libanon geflohen. Hunderttausende jedoch entschieden sich für eine andere Option.
Über den Balkan führt nicht erst seit 2015 eine Migrationsroute nach Zentraleuropa. In den Jahren 2012 und 2013 registrierte die europäische Grenzschutzagentur Frontex auf der Route rund 16.000 Fluchtbewegungen. 2015 jedoch ändert sich das rapide.
Allein in den ersten zehn Monaten des Jahres machen sich rund 700.000 Menschen auf den Weg von der Türkei, über Griechenland und die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens in Richtung Ungarn, Österreich und Deutschland.
Zwar kommen die meisten Menschen, die die Reise nach Europa wagen, aus Syrien. Die Aussicht, in den wohlhabenden Staaten Westeuropas Asyl zu erhalten, lockt jedoch auch Zehntausende Afghanen und Iraker.
Auch mehr als 100.000 Menschen aus den Staaten des Balkans stellen 2015 einen Asylantrag in Deutschland.
Die Balkanroute entwickelt sich innerhalb von kurzer Zeit zur wichtigsten Flüchtlingsroute nach Zentraleuropa.
Auf der Flucht kommt es zu dramatischen Szenen. Vor allem Bilder von Kindern ...
... die in Not sind, gehen um die Welt und lösen eine beispiellose Hilfsbereitschaft in vielen Staaten Westeuropas aus.
In vielen Großstädten Deutschlands werden Geflüchtete herzlich willkommen geheißen und mit Spenden versorgt.
Während ein Teil des Landes kollektive Solidarität mit den Menschen übt, die die Flucht auf sich genommen haben, ...
... sieht ein anderer Teil der Gesellschaft die Fluchtbewegungen vor allem als Gefahr.
Besonders im Osten der Republik regt sich Widerstand gegen die Asylpolitik der Bundesregierung. Tausende demonstrieren bereits seit Ende 2014 jede Woche gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes.
Bei ihrer politischen Bilanzpressekonferenz am 31. August 2015 geht Bundeskanzlerin Angela Merkel auf das Thema ein. Die Behörden gehen zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass in dem Jahr rund 800.000 Asylsuchende in Deutschland ankommen werden.
Und dann sagt sie folgende drei Sätze: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden."
In der Debatte bleibt vor allem ein verkürzter Satz hängen: "Wir schaffen das". Es wird zum Reizwort, zum Slogan, zur vermutlich am stärksten polarisienden Äußerung ihrer Kanzlerschaft. Sie weiß nicht, dass die Dramatik der Flüchtlingskrise zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat.
Wenige Tage bevor Merkels Zitat fällt, wird auf einer Autobahn in Österreich dieser herrenlose Laster entdeckt. Als Polizisten den Laderaum öffnen, entdecken sie dort 71 Leichen von Geflüchteten. Sie hatten Schleuser bezahlt, die sie in ein besseres Leben bringen sollten und waren in dem unbelüfteten LKW erstickt.
Nur wenige Tage später gehen Bilder des zwei Jahre alten Alan Kurdi um die Welt, dessen Leichnam an der türkischen Mittelmeerküste angespült wurde.
Das Bild erinnert die Welt daran, welche unvorstellbaren Strapazen Hunderttausende für die Perspektive auf ein besseres Leben auf sich nehmen und welchen Preis einige davon dafür bezahlen.
Und immer mehr Menschen scheinen sich auf den Weg in Richtung Deutschland zu machen.
Deutschlands Bereitschaft, Menschen aus den Bürgerkriegsstaaten im Nahen und Mittleren Osten aufzunehmen, spricht sich herum, entwickelt eine Eigendynamik.
Geflüchtete campieren auf ihrem Weg auf türkischen Autobahnen, wie hier nahe Edirne, ...
... an den griechischen Küsten stapeln sich benutzte Schwimmwesten von Tausenden, die über das Wasser nach Europa gekommen waren.
Teilweise nehmen die Menschen aus Mangel an Alternativen Autobahnen als Fußweg.
Merkel setzt indes weitere Symbole für eine migrationsfreundliche Politik. Im September lässt sie sich bei einem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber für ein Selfie zusammen mit dem Flüchtling Shaker Kedida aus dem Irak fotografieren.
Am 8. September gehen dann diese Bilder aus Ungarn um die Welt. Osama Abdul Mohsen flieht mit seinem Sohn Zaid auf dem Arm vor der ungarischen Polizei - ...
... bis ihn die Kamerafrau Petra Laszlo zu Fall bringt, indem sie ihm ein Bein stellt.
Die Lage in Ungarn droht zu eskalieren, als der EU-Staat Ungarn seine Grenzen zu Serbien schließt.
Mit Stacheldraht sollen die Menschen davon abgehalten werden, das Land zu betreten.
Das führt nicht nur zu Teils dramatischen Szenen an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn.
Auch in der ungarischen Hauptstadt Budapest campieren Tausende am Hauptbahnhof und warten auf eine Möglichkeit, nach Deutschland weiterzureisen.
Daraufhin einigen sich der österreichische Bundeskanzler, Ungarns Präsident Viktor Orban und Merkel - hier auf einem Bild von 2011 - darauf, die Dublin-III-Verordung kurzfristig außer Kraft zu setzen. Sie regelt, dass Asylsuchende in dem Land, in dem sie europäischen Boden erstmals betreten haben, Asyl beantragen müssen - in dem Fall also in Ungarn.
Doch schon eine Woche später soll damit Schluss sein. Am 12. September 2015 bereitet der Chef der Bundespolizei Dieter Romann - rechts, mit Ex-Innenminister Thomas de Maizière - die Schließung der deutschen Grenzen vor. Nach seiner Vorstellung sollen am Folgetag um 18 Uhr alle Grenzen dicht sein. Wer keinen Pass oder Visum hat, soll abgewiesen werden.
Es wäre das Ende der von Merkel ausgerufenen "Willkommenskultur" gewesen, die schon zum damaligen Zeitpunkt weltweit für Schlagzeilen sorgte.
Es kam bekanntlich anders. Auch wenn es eine Legende gibt, die besagt, die Grenzen seien geöffnet wurden. Korrekt ist: Sie wurden nicht geschlossen.
Hunderttausende haben in Deutschland Schutz vor Krieg und Zerstörung gefunden. Die deutsche Bevölkerung hat diese Entscheidung mehrheitlich unterstützt. Doch es gab auch entschiedene Gegner der Willkommenskultur.
Immer häufiger brennen in Deutschland Einrichtungen, in denen sich Menschen eigentlich sicher fühlen sollen.
Im Jahr 2014 zählte das Bundeskriminalamt 177 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. 2015 schnellt diese Zahl nach oben: Mehr als 1000 mal kommt es zu gewaltsamen Angriffen auf die Einrichtungen.
Ende Oktober 2015 demonstrieren fast 20.000 Menschen bei Pegida in Dresden gegen die flüchtlingsfreundliche Politik der Kanzlerin.
Merkels Satz "Wir schaffen das" sorgt für gemischte Gefühle. Eine Umfrage von Infratest Dimap von Oktober 2015 ergibt, dass 48 Prozent der Deutschen glauben, "das" sei nicht zu schaffen und eine knappe Mehrheit - 49 Prozent - sagten: "Ja, wir schaffen das."
Die Stimmung ändert sich, als eine Welle terroristischer Anschläge über Europa rollt. Im November 2015 ermorden Islamisten in Paris 130 Menschen.
Im März 2016 kommen bei Anschlägen in Brüssel 32 Menschen ums Leben.
Im Juli 2016 rast ein Tunesier in Nizza mit einem LKW durch eine Menschenmenge und tötet 86 Personen. Die Täter der blutigsten Anschläge in dieser Zeit waren zwar keine Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak. Doch sie nutzten zum Teil die Route über den Balkan, um nach ihrer paramilitärischen Ausbildung zurück nach Europa zu kommen und die Anschläge zu verüben.
In Deutschland jedoch wurden Geflüchtete gleich mehrfach zu Terroristen. Im Juli verletzte ein Afghane nahe Würzburg mit einem Messer und einer Axt fünf Menschen. In Ansbach zündete ein Flüchtling aus Syrien bei einem Weinfest einen Sprengsatz, tötete dabei sich und verletzte 15 weitere Menschen. Den traurigen Höhepunkt bildete in Deutschland der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mit elf Toten. Auch dieser Täter - Anis Amri - reiste im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland ein.
Und auch die Kölner Silvesternacht 2015/2016 bildet eine Zäsur in der Debatte um die Flüchtlingspolitik. Es kam dort massenhaft zu Diebstählen und sexuellen Übergriffen auf Frauen. Tatverdächtig waren oft Geflüchtete.
Die absolut überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden in Deutschland jedoch hatte mit diesen Gewalttaten nichts zu tun und die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung blieb hoch.
Überall im Land entstanden provisorische Flüchtlingsunterkünfte. Denn auch wenn 2016 weniger extrem war als das Vorjahr - mit fast 900.000 Asylanträgen, wurden auch in diesem Jahr rund 280.000 Erstanträge gestellt.
Von diesen Erstaufnahmeeinrichtungen ging es für Zehntausende weiter in dauerhafte Unterkünfte oder Wohnungen.
Einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge läuft die Integration gut. Demnach haben bisher mehr als 40 Prozent der Geflüchteten schnell einen Job gefunden. Zudem lassen die Ängste bei den Deutschen nach. Der DIW-Studie zufolge sind aktuell nur noch 32 Prozent der Deutschen wegen der Zuwanderung beunruhigt. 2016 waren es noch mehr als die Hälfte.
Im Gefüge der Regierungskoalition hatte es zu diesem Zeitpunkt schon längst begonnen, mächtig zu quietschen. Im November 2015 kritisierte der damalige CSU-Chef Horst Seehofer Merkel beim Parteitag in München auf offener Bühne. "Wir sind der Auffassung", sagt Seehofer, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Bewältigung der Flüchtlingsthematik "nicht auf Dauer zu haben ist, wenn wir nicht zu einer Obergrenze kommen."
Die Stimmung zwischen den beiden gefriert am Thema Zuwanderung. Im Januar 2016 fordert Seehofer eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr. Merkel lehnt ab. Kurz darauf nennt er ihre Politik der offenen Grenzen "eine Herrschaft des Unrechts".
Viele CDU-Wähler sehen das offenbar ähnlich. In vielen Bundesländern wird 2016 gewählt und Merkels Partei muss teils drastische Verluste verkraften. In Sachsen-Anhalt verliert die Partei 2,7 Prozentpunkte, in Rheinland-Pfalz 3,4, in Mecklenburg-Vorpommern 4, in Berlin 5,7 und in Baden-Württemberg krachende 12 Prozentpunkte.
Nach der Wahl in Berlin gibt sich Merkel selbstkritisch. "Wir schaffen das" habe sich zu einer "unergiebigen Endlosschleife entwickelt". Der Satz sei nicht ausreichend gewesen, um die Probleme zu beschreiben, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge verbunden sind. Sie kündigt an, ihn nicht mehr wiederholen. Stattdessen sagt sie bei der Pressekonferenz: "Wir werden aus dieser Phase besser herauskommen, als wir hineingekommen sind."
Ob das auch für ihre Partei gilt? Bei der Bundestagswahl 2017 holt die CDU das schlechteste Ergebnis seit 1949.
Mehr als eine Million ehemalige CDU-Wähler geben stattdessen der AfD ihre Stimme. Die Partei hatte mit teils drastischer Rhetorik Stimmung gegen Zuwanderung gemacht. Vize-Chefin Beatrix von Storch etwa forderte in sozialen Netzwerken, an der Grenze notfalls auf Frauen und Kinder schießen zu lassen. (Später nimmt sie das teilweise zurück: auf Kinder solle nicht geschossen werden.) Das Konzept hat Erfolg: 12,7 Prozent der Wahlberechtigten geben den Rechtspopulisten ihre Stimme.
Zwischen Merkel und Seehofer gibt es inzwischen wieder so etwas wie Einigkeit. Sie vereinbaren vor Koalitionsgesprächen mit anderen Parteien das Ziel, pro Jahr maximal 200.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Der Begriff "Obergrenze" taucht in der Vereinbarung allerdings nicht auf.
Als anschließend die Sondierungsverhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP scheitern, versuchen es die Schwesterparteien doch noch einmal mit der SPD. Seehofer soll Innenminister werden und ist damit auch für die Flüchtlinge zuständig. Er kündigt an, das Dauerthema Zuwanderung mit einem "Masterplan Migration" lösen zu wollen.
Das mit Spannung erwartete Papier will er eigentlich am 11. Juni 2018 im Innenministerium vorstellen. Doch der Termin wird abgesagt. Im Hintergrund hat es offenbar Streit mit der Kanzlerin um die Frage gegeben, ob Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden dürfen.
Der Streit eskaliert derartig, dass Seehofer im Juli 2018 sogar seinen Rücktritt anbietet. Ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU, ja der gesamten Koalition steht im Raum.
In der Nacht vom 2. Juli 2018 kommt es zum Showdown im Konrad-Adenauer-Haus - und zu einer Einigung in letzter Sekunde. Seehofer kündigt nach den Verhandlungen an, doch Innenminister bleiben zu wollen. Zudem habe man sich auf ein "neues Grenzregime" mit Österreich geeinigt.
All zu groß scheint der Gegenstand des Streits nicht gewesen zu sein. Im März 2019 meldet Seehofers Behörde, dass seit August 2018 nur elf Personen an der deutsch-österreichischen Grenze zurückgewiesen worden waren.
Hinsichtlich ihrer Flüchtlingspolitik entwickelt Merkel mit der Zeit eine gewisse Selbstkritik. Bei ihrer Regierungserklärung im März 2018 im Bundestag sagte sie: "Der Zustrom von Flüchtlingen hat unser Land in beispielloser Weise gefordert." Die Bundesregierung habe "zu langsam und halbherzig reagiert".
Über den Satz "Wir schaffen das" sagt sie: "Der Streit um diesen eigentlich so banalen Satz steht seither gerade symptomatisch dafür, was unser Land und wir gemeinsam schaffen können und vor allem auch, was wir gemeinsam schaffen wollen."
Knapp zwei Jahre später steht Deutschland vor der nächsten großen Krise. Ab Anfang März 2020 verbreitet sich die Corona-Pandemie auch in Deutschland rapide.
Mitte März richtet sich Merkel in einer Fernsehansprache an die Nation. Es ist - wie 2015 - wieder ein Moment zu Beginn einer großen Herausforderung für das Land. Mit einem simplen "Wir schaffen das" ist es dieses Mal nicht getan. Sie nimmt sich mehr Zeit und versucht, zu erklären, warum jeder Einzelne bei der Bewältigung dieser Krise wichtig ist. Statt einem "Das wird schon" macht sie die Bürgerinnen und Bürger selbst zur Lösung des Problems. Ob es klappt? Diese Geschichte ist noch nicht auserzählt. (bdk)