Konsequenz aus Flüchtlingskrise Das ist Merkels neue "neue Außenpolitik"
08.11.2015, 18:38 Uhr
Nach Istanbul reiste Merkel sogar, obwohl dort gerade Wahlkampf war und ihr Besuch als Unterstützung der islamischen Regierungspartei AKP gewertet werden konnte.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Bundeskanzlerin arbeitet am zweiten Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik innerhalb von zwei Jahren. Eine schlechte Nachricht für Menschen in wenig entwickelten Ländern.
Anfang 2014, die Große Koalition bestand noch nicht lange, da verkündeten zwei deutsche Minister und der Bundespräsident eine "neue deutsche Außenpolitik". Von "Verantwortung" war die Rede und davon, dass Deutschland "mehr tun" müsse. Die Bundeskanzlerin verhielt sich still und mischte sich in die Diskussion nicht ein. Deutschland als Weltpolizist? So war der Vorschlag nicht gemeint, aber so wurde er oft verstanden. Angela Merkel hatte damals kein Interesse daran, sich auf der Weltbühne hervorzutun. Ihre Außenpolitik hatte vor allem mit Wirtschaft zu tun. Was gut war für deutsche Unternehmen, war auch gut für Deutschland: freier Handel, Investitionssicherheit, eine gute Entwicklung der Handelspartner.
Das ist längst anders. Merkel hat in der Ukrainekrise die Führung des Westens übernommen und ist somit der Linie der neuen deutschen Außenpolitik gefolgt. Die Franzosen wirken wie Beiwerk, die Amerikaner hat sie ausgebremst, als diese Kiew aufrüsten wollten.
In der Flüchtlingskrise kann man nicht von Führung sprechen - immerhin folgt kaum jemand Merkel. Doch die Kanzlerin lässt sich nicht beirren. Anfang Oktober sagte sie vor dem Europaparlament: "Wir müssen unsere Außen- und Entwicklungspolitik deutlich stärker darauf ausrichten, Konflikte zu lösen und Fluchtursachen zu bekämpfen." Ein weiterer Kurswechsel steht also an. Doch was ist zu tun? Betrachtet man Merkels Außenpolitik der letzten Monate, wird klar, was mit "Fluchtursachen bekämpfen" gemeint ist. Mit Hilfe für die Ärmsten hat es nichts zu tun.
Kurzfristige Stabilität für die Türkei
Zwei Schwerpunkte setzte Merkel: Nummer eins ist die Türkei. Merkel schob einige Prinzipien beiseite, die ihr Verhältnis zu dem Land bislang bestimmt hatten. Gerade sie persönlich hatte sich immer dafür eingesetzt, die EU-Ambitionen der Türkei zu bremsen. Schon als Oppositionsführerin kritisierte sie die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen und warb stattdessen für eine "privilegierte Partnerschaft". Je mächtiger Merkel in der EU wurde, desto unwahrscheinlicher erschien, dass die Türkei Mitglied werden könnte.
Nun vermeidet Merkel alles, was die Regierung in Ankara verärgern könnte. Bei ihrem Besuch in Istanbul zwei Wochen vor der Wahl trat sie als Bittstellerin auf und sagte nicht nur Geld und leichtere Visabeschaffung zu. Sie versprach auch, sich für eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses einzusetzen. Normalerweise hängt die Geschwindigkeit dieser Prozesse von den Fortschrittsberichten ab, die von der EU-Kommission geschrieben werden. Und der Bericht zur Türkei fällt in diesem Jahr sehr negativ aus - weshalb seine Veröffentlichung auch bis nach der Wahl in der Türkei zurückgehalten wurde.
Merkel schert sich derzeit wenig um die Menschenrechtslage in der Türkei. Was zählt, ist ein verlässlicher Ansprechpartner, der bereit ist, zu kooperieren. Eine heikle Strategie: Immerhin haben die Gezi-Proteste in Istanbul, die Demonstrationen nach dem Grubenunglück von Soma und die Aufstände der Kurden im Osten des Landes gezeigt, wie gespalten und instabil die Gesellschaft in der Türkei ist. Die kurzfristige Stabilität, auf die Merkel setzt, könnte trügerisch sein.
Probleme auf dem Balkan werden ignoriert
Zweiter außenpolitischer Schwerpunkt Merkels ist derzeit der westliche Balkan - mehrheitlich also jene Staaten, die durch den Zerfall Jugoslawiens entstanden sind und deren Entwicklung zu langsam vonstattenging, um schon EU-Mitglied zu werden. Schon im August 2014 startete sie eine Initiative für die Entwicklung dieser Staaten. Jetzt wird das Thema drängend: Die Hauptfluchtroute nach Deutschland verläuft quer über den Balkan und führt zu Spannungen unter den einst verfeindeten Völkern. "Ich möchte nicht, dass dort wieder militärische Auseinandersetzungen notwendig werden", sagte Merkel zu Beginn der Woche. Würde man die Menschen auf ihre Fluchtroute in die Balkanstaaten zurückschicken, drohten dort Streit und "Handgreiflichkeiten" oder Schlimmeres.
Genauso wie Merkels Türkeipolitik folgt ihre Balkanpolitik einer klaren Linie: Sie will Konstanz und Berechenbarkeit, auch wenn sie dafür die Menschenrechtslage ignorieren muss. In Bosnien ist das künstlich geschaffene politische System vollständig blockiert, die Spannungen zwischen den Volksgruppen nehmen wieder zu. Der serbische Ministerpräsident befeuert die Spannungen, obwohl er sie auch abfedern könnte. Das Kosovo versinkt in Korruption, in Albanien befehden sich Familienclans, Montenegro und Mazedonien entwickeln sich zu autoritären Systemen. Die Roma werden in diesen Staaten vom öffentlichen Leben praktisch ausgeschlossen.
All das ignoriert die Bundesregierung derzeit. Die Länder werden zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, die Regierungen unterstützt. Die Bestrebungen aus der Zivilgesellschaft, etwas an den verkorksten Systemen zu ändern, werden dagegen nicht gefördert. Zu unklar wäre, was dabei herauskommt.
Keine Berührungsängste mit Despoten
Viele Politiker, Experten und Journalisten haben aus den Entwicklungen im arabischen Raum ganz andere Schlüsse gezogen. Diktaturen und autoritäre Systeme, sagen sie, sind dauerhaft nicht stabil, weil sie sich zu langsam an Veränderungen anpassen. In Tunesien konnte man das sehen, als das Volk 2011 seinen Diktator stürzte. In der Folge wurden auch die Machthaber in Ägypten, Libyen und im Jemen abgesetzt. Alle waren zuvor vom Westen unterstützt worden - ebenso Baschar al-Assad, der Diktator in Syrien. Der Westen darf nicht über die Menschenrechtslage in einem Land hinwegsehen, nur weil er sich Stabilität und gute Geschäfte erhofft, folgerten viele.
Doch genau das passiert. Wer dachte, dass es beim "Bekämpfen der Fluchtursachen" darum geht, den Ärmsten zu helfen, der hat sich getäuscht. Dadurch würde sich die Zahl der Flüchtlinge auch gar nicht senken lassen. Die Umstürze in den arabischen Staaten waren ja gerade erst möglich geworden, weil sich eine Mittelschicht aufgebaut hatte, die sich gegen das System stellte. Die Bundesregierung kehrt darum zurück auf den alten Pfad: Sie liefert Waffen an Marokko und Algerien, sie hofiert den neuen ägyptischen Machthaber genauso wie den saudischen Scheich. Daran wird sich sobald nichts ändern.
Quelle: ntv.de