
Erklärt Wladimir Putin die Ziele der "Spezialoperation" am 9. Mai für erreicht? Oder eskaliert er weiter?
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Am 9. Mai feiert Russland alljährlich den Sieg gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, es ist einer der wichtigsten Feiertage im Land. Angesichts des Krieges in der Ukraine gewinnt das historische Datum in diesem Jahr noch mehr an Bedeutung.
Der Kreml-Propaganda zufolge geht es bei der "Spezialoperation" 77 Jahre nach dem Triumph über Hitler wieder darum, die Welt, zumindest die Ukraine, von "Nazis" zu befreien. Westliche Experten erwarten, dass die Feierlichkeiten nicht nur dazu genutzt werden, Russlands militärische Stärke zu präsentieren, sondern auch, um möglicherweise einen Wendepunkt der Invasion in die Ukraine zu verkünden. Wird Kremlchef Wladimir Putin der Ukraine offiziell den Krieg erklären und eine Generalmobilmachung ausrufen? Oder will er die "Operation" beenden und einen Sieg verkünden? Beide Varianten sind möglich, ein anderes Szenario erscheint jedoch wahrscheinlicher.
Kleine Erfolge als großen Sieg feiern?
Nachdem die offensichtlichen Pläne des Kremls, die Ukraine innerhalb weniger Tage einzunehmen, gescheitert waren, gingen einige Experten davon aus, dass Putin sich zum Ziel gesetzt haben könnte, seine "Spezialoperation" bis zum 9. Mai erfolgreich zu beenden. Doch die russische Offensive kommt nur schleppend voran, von einem Gesamtsieg kann nicht die Rede sein. Denkbar wäre jedoch, dass der Kreml die Eroberung einiger Gebiete als großen Erfolg feiern könnte.
So teilte der ukrainische Militärgeheimdienst vor wenigen Tagen mit, dass der Kreml für den 9. Mai die Durchführung einer Militärparade im größtenteils zerstörten, weitgehend unter russischer Kontrolle stehenden Mariupol plant. Die zentralen Straßen der Stadt würden derzeit "von Trümmern, Leichen und nicht explodierten Sprengkörpern gesäubert", hieß es aus Kiew. "Eine groß angelegte Propagandakampagne ist im Gange", erklärte der Geheimdienst. "Den Russen sollen Geschichten über die 'Freude' der Einheimischen über das Zusammentreffen mit den Besatzern gezeigt werden."
Nicht ganz auszuschließen ist auch das Szenario, dass Russland die Ziele der "Spezialoperation" für erreicht erklärt und das als Sieg darstellt. Dies würde allerdings nicht bedeuten, dass die russischen Streitkräfte abziehen oder den Kampf einstellen würden, betonte der russischstämmige US-Sicherheitsexperte Dmitri Alperovitch auf Twitter. In diesem Fall könnten sie große Offensivoperationen beenden, um sich auf die Verteidigung der eroberten Gebiete zu konzentrieren, erklärte Alperovitch.
Donbass und Cherson stehen wohl vor Annexion
Der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter, mutmaßte vor wenigen Tagen, dass Putin eine Annexion der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk verkünden könnte. Dem Diplomaten zufolge haben die USA zudem "äußerst glaubwürdige" Informationen darüber, dass Russland auch im Gebiet Cherson eine ähnliche "Volksrepublik" errichten möchte, um sie später ebenso einzuverleiben, hieß es in einem CNN-Bericht.
Über diese Pläne berichtete Ende April auch das russische Exilmedium "Meduza" unter Berufung auf Insider, die der russischen Präsidialverwaltung nahestehen sollen. Die "Referenden" im Donbass und in Cherson sollen allerdings erst am 14. und 15. Mai stattfinden. Möglich ist, dass Putin am Montag die Termine der Abstimmungen offiziell bekannt gibt.
Die geplante "Volksrepublik Cherson" und die Einnahme Mariupols ermöglichen den Russen die Schaffung eines Landkorridors zwischen dem Donbass und der bereit 2014 annektierten Krim. "Das kann als 'großer Sieg' dargestellt werden", sagte der Militärexperte Serhiy Grabsky vor wenigen Tagen im ukrainischen Fernsehen.
Lässt Putin den Krieg "real" werden?
Seit Tagen wird auch darüber spekuliert, dass Putin am 9. Mai der Ukraine offiziell den Krieg erklären könnte. Das würde den Kreml unter anderem in die Lage versetzen, eine Generalmobilmachung anzuordnen. Dann könnte Russland nicht nur Berufssoldaten, sondern auch Wehrdienstleistende in die Ukraine schicken. Somit würden der russischen Armee einerseits wesentlich mehr Kräfte zur Verfügung stehen. Andererseits könnte das Kriegsrecht die Stimmung im Land kippen, urteilt der ntv-Korrespondent in Moskau, Rainer Munz.
"Im Moment hat die 'Spezialoperation' für einen Teil der Bürger noch den Charakter eines Computerspiels", erklärte auch Wjatscheslaw Bachmin, Ko-Vorsitzendender der Menschenrechtsorganisation "Moskauer Helsinki-Gruppe", im Interview mit dem Sender Voice of America. "Für den Durchschnittsbürger ist es sehr schwierig, die Blutigkeit der Ereignisse zu erkennen. Den virtuellen Krieg aufzugeben und ihn real werden zu lassen - mit einer Mobilisierung und einer großen Zahl von Opfern, die unweigerlich folgen werden - birgt also unvorhersehbare Folgen für den Kreml", schlussfolgert der Menschenrechtler.
"Das Beste, was passieren kann, ist eine Generalmobilmachung"
Der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowitsch vertritt die Meinung, dass die allgemeine Mobilmachung in Russland für Kiew von Vorteil wäre, da sie den Sturz des Putin-Regimes nur beschleunigen würde. "Die Generalmobilmachung in Russland ist ein Segen für die Ukraine. Denn damit beginnt der letzte Countdown von Putins Regime, ein sehr schneller Countdown", sagte Arestowitsch vor wenigen Tagen in einem Interview auf dem Youtube-Kanal "Feygin Live". "Dieser Prozess wird nicht mehr aufzuhalten sein. Das Beste, was passieren kann, ist eine Generalmobilmachung in Russland. Das ist ein so guter Trumpf für uns, dass ich das eigentlich gar nicht erwähnen wollte", sagte Arestowitsch.
Über eine mögliche Mobilisierung hatte auch der britische Verteidigungsminister Ben Wallace Ende April in einem Interview mit dem Radiosender LBC gesprochen. "Das würde mich nicht wundern", sagte Wallace. "Putin ist mit fast allen Zielen gescheitert. Ich kann mir gut vorstellen, dass er seine Rede nutzt, um den Nazis der Welt den Krieg zu erklären und die russische Bevölkerung zu mobilisieren." Der britische Minister erwähnte allerdings, dass es sich dabei um seine Meinung handelt und dass er dazu keine genauen Informationen habe.
Wenige Tage später, am 2. Mai, teilte der ukrainische Militärgeheimdienst mit, dass Russland möglicherweise eine Generalmobilmachung vorbereite. Demnach hätten die Behörden "angefangen zu überprüfen, was sie tatsächlich auf Lager haben, und zu berechnen, was sie im Rahmen von Mobilisierungsaufträgen ausgeben können. Dies ist ein absolut notwendiger Schritt vor dem Beginn einer echten Mobilisierung", erklärte ein Sprecher des Geheimdiensts dem ukrainischen Nachrichtenportal New Voice of Ukraine.
Auch CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, der am vergangenen Dienstag zusammen mit Friedrich Merz in die Ukraine reiste, sieht Hinweise auf die mögliche Mobilisierung. "So wie es aussieht, ändert Russland gerade seine Rhetorik, nach dem Motto: Es sind zu viele Nazis dort, wir müssen noch mehr denazifizieren. Und das geht nur noch mit einer groß angelegten militärischen Offensive", sagte Kiesewetter im Interview mit ntv.de. Kremlsprecher Dmitri Peskow wies am Mittwoch Spekulationen über eine bevorstehende Generalmobilmachung zurück und bezeichnete sie als "Unsinn".
Teilmobilmachung könnte für Putin die Lösung sein
Militäranalyst Ruslan Leviev, Gründer des Conflict Intelligence Team (CIT), einer Gruppe russischer Investigativ-Blogger, erklärte am 2. Mai gegenüber dem russischsprachigen US-Fernsehsender "Current Time", dass das CIT bisher keine Anzeichen für die Vorbereitung einer Mobilisierung beobachtet hatte. Leviev zufolge glaubt das CIT nicht an die Generalmobilmachung, da dies katastrophale Folgen für die Wirtschaft haben würde. Zudem fehle es an Waffen und Uniformen, betonte der Experte. Allerdings ist laut Leviev eine Teilmobilmachung möglich.
So könnten beispielsweise Reservisten aus den an die Ukraine angrenzenden Regionen in die Armee eingezogen werden oder die kürzlich demobilisierten Soldaten können wieder in die Armee aufgenommen werden. Wenn eine solche Teilmobilisierung stattfindet, so ist es sehr wahrscheinlich, dass man ausreichend Ausrüstung für 200.000 zusätzliche Männer findet", erklärte Leviev. "Das würde den Verlauf des Krieges wirklich ernsthaft verändern."
"Eine festliche Atmosphäre demonstrieren"
Wird Putin am 9. Mai also die Ziele der "Spezialoperation" für erreicht erklären oder den Konflikt weiter eskalieren, indem er den Krieg offiziell ausruft? Das ist aufgrund der Unberechenbarkeit des Kremls nicht vorherzusagen. Am wahrscheinlichsten erscheint aber das Szenario, dass der russische Präsident darauf verzichtet, den Tag des Sieges gegen Nazi-Deutschland mit der Verkündung eines Wendepunkts im Ukraine-Krieg zu verknüpfen.
Eine Siegesverkündung ist aufgrund der militärischen Lage kaum vorstellbar, zudem würde sie den eigentlichen Anlass der Feier - den Triumph über Nazi-Deutschland vor 77 Jahren - in den Hintergrund stellen. "Am 9. Mai muss Putin eine festliche Atmosphäre demonstrieren und an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnern", sagte der politische Analyst Wolodymyr Fesenko dem Fernsehsender Ukraine 24.
Aus demselben Grund ist auch die Erklärung des Krieges und die Verkündung der Generalmobilmachung ausgerechnet am 9. Mai eher unwahrscheinlich. "Was die Mobilisierung anbelangt, so ist dies ein Eingeständnis der Probleme, dass nicht genügend Ressourcen vorhanden sind", erklärte Fesenko. Solch eine Ankündigung wäre am 9. Mai fehl am Platz.
Quelle: ntv.de