
Schon früh begannen die Iraner, sich selbst gegen das Virus zu schützen. Ihre Regierung spielte da die Gefahr noch herunter - diese provisorische Klinik mit 2000 Betten errichtete die Armee in Teheran.
(Foto: AP)
Wochenlang spielte das iranische Regime die Corona-Gefahr herunter, bis der Vize-Gesundheitsminister quasi vor laufender Kamera erkrankte. Doch die religiösen Führer wollten auch da noch nichts von der Bedrohung wissen. Wie ein Volk versucht, sich gegen das Virus zu schützen, wenn die Machthaber zu spät handeln.
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, hustet, schwitzt weiter, nimmt die Brille ab, wischt erneut: Iraj Harirchi ist nicht irgendein Iraner, der zu Hause Covid-19 auskuriert. Harirchi ist der Vize-Gesundheitsminister und erklärt unter Schweißausbrüchen im iranischen Staatsfernsehen, dass die Lage im Land absolut unter Kontrolle sei. Nochmal Stirn tupfen. Maßnahmen wie Quarantäne seien aus dem vergangenen Jahrhundert - überholt und wirkungslos, fügt er hinzu. Einen Tag später informiert der Vize-Minister per Videobotschaft, er sei mit Corona infiziert und nun in Quarantäne.
Das Video von Harirchis Fernsehauftritt sammelte im Netz in den vergangenen Wochen hunderttausende Klicks. Es entstand wenige Tage, nachdem der Iran die ersten zwei Todesfälle gemeldet hatte. Wie vielleicht kein anderes Ereignis der letzten Zeit zeigt der Fernseh-Mitschnitt, mit welcher Dreistigkeit das Regime die iranische Bevölkerung belogen hat, selbst dann noch, als es für jedermann sichtbar war.
Nun, da die Zahl der Toten offiziell bei 3452 liegt und die der Infizierten bei über 55.000, begann der iranische Außenminister Jawad Sarif einen Presseauftritt damit, dass er sich mit Latex-Handschuhen eine Schutzmaske vom Gesicht zog. Schulen, Universitäten, Kinos, Theater und sogar das Parlament sind geschlossen, ebenso die für schiitische Gläubige bedeutenden heiligen Stätten des Landes und alle Geschäfte außer Supermärkten und Apotheken. Die Polizei sperrte vor und nach dem persischen Neujahrsfest am 20. März Autobahnen und Landstraßen, um Reisen in die Provinzen zu vermeiden.
Flüge zwischen Wuhan und Iran, als das Virus schon wütete
Ursprünglich war der Plan, ab dem 8. April zum Normalzustand zurückzukehren. Am vergangenen Donnerstag hörte sich Ruhani plötzlich sehr anders an: "Ich muss hier noch mal klarstellen, dass wir nicht sagen können, wann die Krise endgültig beendet ist. Es könnte Monate dauern, sogar bis zum Ende des Jahres." Das persische Jahr hat gerade begonnen und dauert bis März 2021.
Doch auch mit längerfristigen Maßnahmen ist fraglich, ob das iranische Regime die fatalen Fehler aus der Anfangszeit noch ausmerzen kann. Als in Chinas Epizentrum Wuhan das Virus bereits wütete, flog die iranische Fluggesellschaft Mahan im Auftrag chinesischer Unternehmen noch zwei Wochen lang regelmäßig zwischen der Krisenregion und dem Iran hin und her. Auch, um muslimische Studenten aus China nach Ghom zu bringen, in die heilige Stadt, in der sie eine der wichtigsten schiitischen Schulen besuchten. Auf diesen regen Flugverkehr führen es Beobachter zurück, dass Iran den dramatischsten Ausbruch von Covid-19 im Nahen Osten erlebt.
Denn Ghom war nicht nur das Ziel der einreisenden Chinesen, sondern auch das Ziel sehr vieler iranischer Gläubiger. Über das Stadtbild strahlt die prächtige Goldkuppel des Schreins der Masuma, der Schwester des achten Imams - der zweitwichtigste Wallfahrtsort im ganzen Land. In langen Schlangen stehen die Gläubigen dort an und warten darauf, den Schrein einmal küssen zu dürfen.
Ideale Bedingungen für ein Virus, das sich über Speichel und Husten verbreitet. Als das Gesundheitsministerium die Stadt anwies, die religiöse Stätte zu schließen, passierte nichts. "Die Mullahs vor Ort ignorierten die Anweisung, obwohl sie wussten, welche Gefahr von den Küssen und dem Gedränge am Schrein ausging", sagt der iranische Journalist Farhad Payar. Als der Schrein nach langem Ringen schließlich abgesperrt war, stachelten religiöse Fundamentalisten die Gläubigen an, den Zaun wieder einzureißen.
Iran lehnt Hilfe von Ärzte ohne Grenzen ab
Als Mitte März ein Notfallteam von Ärzte ohne Grenzen (MSF) mit zwei Frachtflugzeugen voll medizinischen Materials für die Errichtung eines Corona-Behandlungszentrums in Teheran landete, lehnte das Gesundheitsiministerium die Hilfe, die mit dem Außenminister vereinbart worden war, ganz überraschend ab. Angeblich gab es Bedenken bei den Hardlinern im Land, dass es sich bei den Experten von MSF um westliche Spione handeln könnte.
Die religiösen Institutionen sind im Kampf gegen das Virus nicht Partner, sondern Gegner - und zwar mächtige Gegner. Geistliche betreten Krankenhäuser und Quarantäne-Stationen ohne Zustimmung der Ärzte, "weil man gegen einen Mullah nichts sagen kann", so Payar. "Auf einem im Netz kursierenden Video geht ein Mullah auf einer Krankenstation von Bett zu Bett und reibt den dort liegenden Patienten ein angeblich heiliges Öl auf die Lippen."
Großajatollahs widersetzen sich der Regierungspolitik, die Revolutionsgarden verfolgen eigene Interessen - das Chaos, das entsteht, wenn unterschiedliche Machtzentren gegeneinander arbeiten, schadet dem Iran schon in normalen Zeiten und macht ihn schwer berechenbar. Im Angesicht einer Pandemie jedoch kann solch ein Machtkampf viele Menschenleben kosten.
Viele Iraner erlegen sich selbst Quarantäne auf
Immerhin steigt die iranische Ansteckungskurve weit weniger steil an als beispielsweise die der USA, denen es ebenfalls an einer einheitlichen Strategie in der Bekämpfung des Virus fehlt. Das kann auch damit zusammenhängen, dass im Iran Erkrankte häufig ohne Test wieder nach Hause geschickt werden, da zum einen nicht ausreichend Test-Kits vorhanden sind, andererseits durch die starke Luftverschmutzung in den Städten auch andere Lungenleiden im Land sehr verbreitet sind. Noch entscheidender könnte aber das Misstrauen großer Teile der Bevölkerung gegenüber dem Regime sein, die auch die anfänglichen Beschwichtigungen nicht glaubte.
"Letztlich verstehen es die Iraner selbst eher als ihre Regierung, aufzupassen und sich in der Mobilität einzuschränken, auch in selbst auferlegter Quarantäne", sagt der Nahost-Experte Adnan Tabatabai. Er höre von vielen, die zum Beispiel auf Familienzusammenkünfte verzichten, und zwar nicht erst jetzt, sondern schon seit Ende Februar. "50 Prozent der Wirtschaft sind Dienstleistungen, die vielfach auch von zu Hause aus erledigt werden können. Das heißt, ein großer Teil des operativen Geschäfts konnte sofort aus der Öffentlichkeit heraus genommen werden. Das ist keine Leistung der Regierung, sondern das hat die Bevölkerung selbst gemacht." Selbstgemacht sind auch viele Schutzmasken, die die Iraner tragen, ohne dazu gezwungen zu werden.
Selbst bei manchen Strengreligiösen komme durch die Pandemie ein Umdenken in Gang, hat der Journalist Payar beobachtet. Zunächst hätten die es nicht wahrhaben wollen, dass ihnen Gott so etwas antut. "Als Strenggläubiger ist man bislang mit einem Schwerkranken zum Schrein des achten Imam in Maschhad gegangen und hat denjenigen am Schrein festgebunden", sagt Payar. Das sei seit Generationen die Praxis gewesen, "und womöglich ist mancher durch den Glauben sogar geheilt worden. Nun sehen sie, dass es nicht geht. Dass man gegen Corona Ärzte braucht, dass man Desinfektionsmittel braucht, dass man technische Geräte braucht, die der große Satan herstellt. Nun bekommen viele Menschen Zweifel, ob das, was sie bisher geglaubt haben, richtig war."
Viele Ärzte haben den Iran verlassen
Da mag es ihnen auch zunehmend zweifelhaft erscheinen, wenn der Oberste Geistliche Führer Ali Chamenei behauptet, Corona sei eine amerikanische Biowaffe "speziell gegen den Iran". Für die Machtposition der Kleriker kann ein Umdenkprozess in der Bevölkerung gefährlich werden, und das Corona-Virus scheint ein mächtiger Faktor zu sein. Im Kampf gegen die Pandemie rächt sich nun, dass das islamische Regime die "weltlichen" Ärzte immer schlecht behandelt hat, der Gesundheitssektor von Korruption und Vetternwirtschaft durchzogen ist. Viele Ärzte haben das Land verlassen, praktizieren in Kanada, Europa oder den USA.
Und auch wenn Washington nicht müde wird zu erklären, dass medizinische Produkte nicht auf der Sanktionsliste gegen den Iran stehen, so stimmt das zwar, aber ist dennoch zu kurz gegriffen. Denn die Bezahlung der Medikamente oder chirurgischen Instrumente müsste über eine Bank erfolgen. Derzeit führt aber kein Geldinstitut Transaktionen mit dem Iran durch, aus Angst vor US-Sanktionen. Wenn keine Bank bereit ist, eine Bezahlung weiterzuleiten, dann kann man nichts kaufen, egal, welche Produkte auf der Sanktionsliste stehen.
Und schwierig wird es auch mit der iranischen Kreditanfrage beim Internationalen Währungsfonds (IWF) über fünf Milliarden Dollar. Von Statuten des IWF aus sei es ohne weiteres möglich, dass Iran dieses Geld in zwei Tranchen bekomme, erklärt Tabatabai. Der Punkt sei aber, dass die Iranische Zentralbank als zuständige Institution diesen Kredit angefragt habe. "Die USA hat die Zentralbank auf die Sanktionsliste gesetzt. Wie soll dieses Geld an Iran überwiesen werden? Am Ende wird man vermutlich auch dafür eine Lösung finden, aber es kostet Zeit, und die hat man im Kampf gegen Corona nicht."
Ruhani: "Es geht um Menschenleben"
"Zwar ist die ganze Welt von der Corona-Krise betroffen, aber wir im Iran müssen an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen: Corona und US-Sanktionen", sagte unlängst der iranische Präsident Hassan Ruhani. Es gehe derzeit nicht mehr um politische Differenzen, sondern um Menschenleben. Ein Hilfsangebot der USA lehnte das iranische Regime dennoch ab. Zeitnah wiederum verschärfte Washington nochmals die Sanktionen gegen den Iran, trotz internationaler Appelle, die Sanktionen zu lockern, um dem Iran den Kampf gegen Corona zu ermöglichen.
Immerhin gab es in der vergangenen Woche die erste Transaktion der von Deutschland, Frankreich und Großbritannien gegründeten Gesellschaft Instex, die Geschäfte mit dem Iran abwickeln soll, wenn Banken dazu nicht bereit sind. Laut Auswärtigem Amt wurde damit eine Lieferung medizinischer Güter aus Europa in den Iran möglich gemacht. Die Vorbereitungen für Instex hatten 15 Monate gedauert. Dass Instex die US-Sanktionen in großem Stil ausgleichen kann, bezweifeln Experten allerdings.
Quelle: ntv.de