Er überzeugt sogar Erdogan Stoltenberg - so gut, dass er für die NATO ein Problem ist


Wer soll an die Spitze der NATO nachfolgen? Generalsekretär Jens Stoltenberg mit dem ehemaligen Regierungschef der Niederlande, Mark Rutte.
(Foto: IMAGO/ANP)
Am Abend vor dem Gipfel räumt Stoltenberg noch fix die größte Hürde ab: Die Türkei will Schweden nun doch in die NATO lassen. Sein Verhandlungsgeschick ist nicht das einzige, was diesen Mann so schwer ersetzlich macht.
Einen Tagesordnungspunkt können die NATO-Mitglieder heute direkt wieder von der Agenda streichen: 'Türkei überzeugen, den NATO-Beitritt Schwedens durchzuwinken' - hat Generalsekretär Jens Stoltenberg noch eben am Abend vor dem Gipfel in Vilnius erledigt. Man darf hoffen, dass auch Ungarn seinen Widerstand aufgeben wird. Eine enorm wuchtige Kuh rutscht so allmählich vom Eis.
Doch mit dem unerwarteten Verhandlungserfolg Stoltenbergs wird zugleich eines deutlich: Eine Herausforderung, die heute und morgen gar nicht auf der Agenda steht, wird die NATO-Mitglieder in den kommenden Monaten womöglich noch ins Schwitzen bringen: Es muss darum gehen, für den respektierten Generalsekretär eine Nachfolge zu finden. Weil das so schwierig zu sein scheint, bleibt Stoltenberg bis Oktober 2024 an der Spitze der Allianz - damit verlängert sich seine Amtszeit zum vierten Mal.
Das lässt sich als Ausdruck großer Wertschätzung für die Arbeit und Bedeutung des Norwegers lesen. Aber auch als Hinweis darauf, wie unfähig der Nordatlantikpakt seit vielen Monaten ist, sich auf eine Nachfolge für das Spitzenamt zu einigen. In schwierigen Zeiten scheint die Personalfrage wichtiger denn je, denn die Machtfülle in diesem Amt steht und fällt mit der Person, die es bekleidet.
"Die Macht dieser Position ergibt sich vor allem daraus, dass da jemand ist, der eine Bürokratie leitet, die auch Entscheidungen der NATO vorbereitet", sagt der Politologe Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations. "Er setzt die Agenda für die Allianz - auf Arbeitsebene, auf Ministerebene und mit den Staats- und Regierungschefs und -chefinnen. Er wählt potenzielle Optionen aus, macht Vorschläge, wie mit bestimmten Problematiken zu verfahren ist."
Die Person an der Spitze der NATO prägt auch ihre Perspektive, die Frage, wie Probleme und Handlungsmöglichkeiten dargestellt und bewertet werden. "Die Aufgabe geht mit sehr viel Verantwortung und Einfluss einher", sagt die Grünen-Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger. "Nicht alles spielt sich auf öffentlicher Bühne ab, vieles findet in vertrauensvollen Beratungen statt. In den vergangenen Jahren ist der Posten auf jeden Fall wichtiger geworden." Stoltenberg ist aus Sicht von Rafael Loss ein Beispiel für jemanden, der mit den Jahren in das Amt hineingewachsen ist.
Stoltenberg fand immer klarere Worte
Als er es im Oktober 2014 übernahm, hatte Russland bereits die Krim besetzt, bald begannen die Kämpfe im Donbass mit immer unverhohleneren Aggressionen Russlands. Über der von Separatisten kontrollierten Ostukraine holte eine russische Buk-Rakete die niederländische Boeing MH17 vom Himmel. Mit fast 300 Passagieren an Bord.
"Damals wurden Zweifel geäußert, ob Stoltenberg der Richtige sein könnte in dieser Position", erinnert Loss. "In der Vergangenheit hatte er gegenüber Russland zum Teil konziliante Töne angeschlagen." Mit Fortschreiten der Untersuchungen zum Absturz der Maschine fand Stoltenberg immer klarere Worte gegenüber Russland, forderte Moskau auf, "die Verantwortung zu übernehmen", wie er 2018 sagte.
Und auch militärisch reagierte die NATO unter dem Norweger. Im Rahmen der "Enhanced Forward Presence" (eFP) stationierte sie ab 2016 Kampfgruppen in Polen und in den Baltenstaaten. Die multinationalen, rotierenden Einheiten mit Stärken zwischen 1000 und 1500 Soldaten sollen die Ostflanke der Allianz sichern. "Stoltenberg hat die NATO auf eine neue Zeit einstellen können, in der nach zehn bis 15 Jahren Konzentration auf Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets, unter anderem in Afghanistan und Libyen, nun die Territorialverteidigung wieder im Fokus steht", bilanziert der Sicherheitsexperte Loss.
Stoltenbergs größte Herausforderung aber saß in den Jahren 2016 bis 2020 im Weißen Haus. Donald Trump als damaliger US-Präsident lehrte Transatlantiker mit seiner America First-Doktrin das Fürchten. Wenn er schon nicht die USA formell aus der NATO herausziehen würde, womit er 2018 auf einem Gipfel in Brüssel indirekt gedroht haben soll, so bestand mindestens die Gefahr, der politischen Glaubwürdigkeit der Allianz enormen Schaden zuzufügen. "Bündniszusagen hängen maßgeblich an den Sicherheitsgarantien der USA - nuklear und auch konventionell", erklärt Loss. "Dass dieser Glaubwürdigkeitsverlust abgewendet wurde, daran hat Stoltenberg einen großen Anteil."
Putin keinen Anlass liefern
Gefragt war in jenen Jahren vor allem diplomatisches Geschick im Umgang mit Washington, wo in einzelnen Ministerien durchaus auch andere Positionen vertreten wurden als die des Präsidenten. "Man sah damals kein einheitliches Regierungshandeln, und Stoltenberg gelang es, zu den einzelnen Akteuren robuste persönliche Beziehungen aufzubauen. Zugleich wirkte er in den Rest der Allianz hinein, versuchte, sie zusammenzuhalten und Erwartungsmanagement zu betreiben."
Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine setzte man mit dem Ramstein-Format eine Unterstützergruppe außerhalb der NATO ein, um Russlands Machthaber Wladimir Putin keinen Anlass zu liefern, die westliche Allianz als Kriegspartei zu definieren.
An der Haltung der NATO gegenüber dem russischen Angriffskrieg ließ er trotzdem zu keinem Zeitpunkt Zweifel aufkommen. "Es gibt ein sehr langfristiges und auch stabiles Verständnis davon, dass wir die Ukraine vom zivilen bis zum militärischen Bereich weiter unterstützen müssen und sie nicht im Stich lassen", sagt Politikerin Brugger. "Und das hat auch viel mit der Arbeit von Jens Stoltenberg zu tun."
Nun wird also - mangels geklärter Nachfolgefrage - Norwegens ehemaliger Premierminister noch 15 weitere Monate im Amt bleiben. Gesucht wird unterdessen nur mit halber Kraft, wird doch deutlich, dass eine Person, die alle an das Amt gestellten Kriterien erfüllen würde, schlicht nicht existiert:
Nach fast 75 NATO-Jahren mit ausschließlich Männern an der Spitze wünschen sich viele nun endlich eine Frau auf dem Posten. Nachdem Stoltenberg schon der dritte Amtsinhaber aus Nordeuropa war, erschiene nun jemand aus dem Süden passend, und bitte eine Regierungschefin (oder -chef) aus einem EU-Mitgliedstaat. Die Position gegenüber Russland sollte klar und kantig sein, aber nicht zu krawallig. Und wünschenswert wäre natürlich ein Heimatstaat, der beispielhaft das Zwei-Prozent-Ziel im Verteidigungshaushalt erreicht.
Keine(r) erfüllt alle Kriterien
Egal, ob der britische Verteidigungsminister Ben Wallace gehandelt wird (männlich, kein EU-Staat), Premierministerin Kaja Kallas aus Estland (zu krawallig), ihre dänische Amtskollegin Mette Frederiksen (nicht schon wieder Norden, deutlich unter zwei Prozent im Etat) oder der Niederländer Mark Rutte (unter zwei Prozent, männlich): Jede Person, deren Name derzeit gehandelt wird, reißt mindestens ein Kriterium, was dafür spricht, das man an diese Parameter in den kommenden Monaten wohl nochmal ran muss. Zumal die 31 Mitgliedstaaten einstimmig zustimmen müssen. Allein diese Herausforderung erscheint bereits hoch genug.
Für Verteidigungspolitikerin Brugger ist das Zwei-Prozent-Ziel als Kriterium am wenigsten entscheidend. "Es kommt auf die Persönlichkeit an, auf ihre Fähigkeit, zusammenzuführen und auch unter einer so schwierigen Sicherheitslage immer wieder Gemeinsamkeit herzustellen." In der Vergangenheit wurde häufig am Ende ein Trumpf gezogen, den im Vorfeld noch gar niemand im Blick gehabt hatte. Das entbindet die NATO-Mitglieder jedoch nicht davon, sich in den kommenden Monaten um die Stoltenberg-Nachfolge intensiv zu kümmern.
Quelle: ntv.de