Silvester in Köln "Diese Nacht hat Deutschland verändert"
18.12.2016, 10:23 Uhr
(Foto: dpa)
Der Journalist Christian Wiermer hat ein Buch über die Silvesternacht in Köln geschrieben. Im Interview mit n-tv.de spricht er über die Fehler der Behörden, die schwierige Debatte um die Herkunft der Täter und die Folgen für das ganze Land.
n-tv.de: Ist es Zufall, dass es ausgerechnet in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 zu massenhaften Übergriffen gekommen ist?

Christian Wiermer ist Journalist, er ist Hauptstadt-Korrespondent der Dumont-Mediengruppe.
(Foto: Max Grönert)
Christian Wiermer: Der Hauptgrund war, dass Köln verkehrstechnisch zentral gelegen ist. Viele der - späteren - Tatverdächtigen konnten dort mit einfacher Erreichbarkeit zum ersten Mal im westlichen Europa eine Silvesterfeier erleben.
Nach der Silvesternacht gab es Vorwürfe, die Behörden seien schlecht vorbereitet gewesen. War das, was passiert ist, vermeidbar?
Die Ereignisse hätten verhindert werden können, wenn in der Planung sowie der Durchführung des Einsatzes nicht entscheidende Fehler gemacht worden wären. Der erste war, dass das Land einer Kräfteanforderung der Kölner Polizei nicht vollständig entsprochen hat – aus bis heute nicht schlüssig nachvollziehbaren Gründen. Daraufhin wurde die Planung geändert: Der Einsatzzug mit knapp 40 Kräften, der für den Bereich Dom/Hauptbahnhof eingeplant war, wurde gestrichen und die Einsatzzeit für die Bereitschaftspolizei auf 22 Uhr nach hinten verlegt. Das hatte die fatale Folge, dass die bereits früh stattfindende Eskalation nicht in angemessener Weise von Kräften vor Ort zur Kenntnis genommen wurde. Es entstand ein rechtsfreier Raum. Dazu kamen schlimme Kommunikationspannen während der Nacht. Insgesamt ein beispielloses strukturelles und menschliches Versagen.
Waren die massenhaften Übergriffe so geplant, gab es etwa Verabredungen über soziale Medien?
Die Polizeibehörden haben nachträglich herausgefunden, dass es zwar vereinzelt Verabredungen von Personen über soziale Netzwerke gab, zum Feiern nach Köln zu fahren. Es gab und gibt jedoch keine Hinweise über konkrete Verabredungen, Straftaten in dieser Art und Weise zu begehen.
Nach den Ereignissen in der Silvesternacht gab es eine Diskussion, ob Behörden die Herkunft der Täter nennen sollen. Gab es damals die Order, die Nationalität der Täter zu verschleiern?
Polizisten berichten, meistens hinter vorgehaltener Hand, schon lange von einer Kultur des vorauseilenden Gehorsams. Es gibt tatsächlich gute Gründe, in der Öffentlichkeit die Herkunft von Tatverdächtigen nur zu nennen, wenn es für den Sachzusammenhang wichtig ist. Hier geht es insbesondere auch um den Schutz von Minderheiten wie etwa Sinti und Roma. Wie der Staatssekretär im NRW-Innenministerium allerdings einräumte, wird das "in der Praxis" auch auf Nationalitäten ausgeweitet – zumindest war es bis zur Kölner Silvesternacht demnach so. Ob es eine konkrete Anweisung gab, bestimmte Dinge zu vertuschen, ist bis heute eines der größten Rätsel bei der Aufarbeitung. Am 1. Januar erreichte ein ominöser Anruf die Kriminalwache der Kölner Polizei. Der Anrufer, angeblich aus der Landesleitstelle, forderte laut den Kommissaren von diesen, dass die erste interne Meldung über die Dimension der Ereignisse mit der Herkunft der Täter storniert werden sollte. Angeblich handelte der Anrufer auf Wunsch des Innenministeriums. Auch der Begriff Vergewaltigung sollte demnach gestrichen werden. Kölner Polizisten haben diesen Anruf nachdrücklich unter Wahrheitspflicht bestätigt. Der Anrufer ist jedoch bis heute nicht gefunden worden - auch, weil nach Monaten wichtige Telefondaten gelöscht waren.
Welche Figur hat die nordrhein-westfälische Landesregierung bei der Aufklärung der Ereignisse gemacht?
Sowohl Innenminister Jäger als auch Ministerpräsidentin Kraft haben ihr Versprechen nach lückenloser Aufklärung nicht eingelöst. Der Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht hat zwar eine Menge herausgefunden, seine Aufklärungsarbeit leidet jedoch weiterhin darunter, dass angeforderte Unterlagen entweder gar nicht oder erst mit Verspätung zur Verfügung gestellt wurden. Nun klagen CDU und FDP ja auch auf Herausgabe von Dokumenten.
Warum ist die Bestrafung der Täter so schwierig?
Die Verurteilung ist deshalb so schwierig, weil es in nur sehr wenigen Fällen, insbesondere was die Sexualdelikte betrifft, gerichtsfeste Beweise gibt: wenige DNA-Treffer, schlechtes Videomaterial, seltene Wiedererkennung von Tätern durch Opfer und Zeugen. Außerdem konnten in vielen Fällen notwendige Spurensicherungen in der Nacht nicht vollzogen werden, weil viel zu wenig Beamte verfügbar waren. Insgesamt gibt es heute über 330 Beschuldigte, davon gut 85 auch wegen sexueller Übergriffe, aber nur drei Verurteilungen. Bei der Aufklärung von Eigentumsdelikten war die Justiz hingegen recht erfolgreich. Dank Ortungen von Handys konnten viele Mobiltelefone sichergestellt werden.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Silvesternacht ist oft von einem einzigartigen Vorfall die Rede. Hat es so etwas in dem Ausmaß als Tatmuster vorher schon einmal gegeben?
Nicht in Deutschland, nicht in Europa. Es gab Vorfälle in Nordafrika, insbesondere auf dem Tahir-Platz in Kairo, vor allem in der Umbruchsjahren 2011 und 2013, bei denen Männer Frauen umzingelt und sexuell belästigt haben. Allerdings waren diese Taten nicht wirklich vergleichbar, weil bei der Aufklärung auch politische Motive nachgewiesen werden konnten - das war in Köln, nach allem was wir wissen, nicht der Fall.
"Die Nacht, die Deutschland verändert", heißt Ihr Buch – inwiefern hat diese Nacht Deutschland verändert?
Diese Nacht hat Deutschland verändert, weil durch etwas Einzigartiges - sowohl in der Tatbegehung als auch in der Dimension - Dämme auf ganz vielen Ebenen aufgebrochen sind. Die Übergriffe geschahen zu einem Zeitpunkt, zu dem weite Teile der Bevölkerung eine ausgeprägte Willkommenskultur demonstriert haben. Für viele war das Ereignis überhaupt nicht vorherzusehen, andere sahen darin hingegen eine Bestätigung, weil sie schon vorher vermuteten, dass mit der Flüchtlingswelle auch mehr Kriminalität ins Land kommen würde. Selten hat ein Ereignis so viele politische Gesetzesänderungen, etwa im Bereich des Sexualstrafrechts, aber auch im Aufenthalts- und Asylrecht, und eine so breite Debatte nach sich gezogen. Eine Debatte über das subjektive Empfinden von Sicherheit in Deutschland, das Verhalten von Behörden im Umgang mit der Herkunft von Straftätern.
Mit Christian Wiermer sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de