Politik

Wer ist in der Türkei das Volk? Erdogan-Jünger im Allmachtsrausch

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Am Sonntagabend auf dem Taksim-Platz in Istanbul.

(Foto: REUTERS)

Seit dem gescheiterten Putschversuch versammeln sich jeden Abend Anhänger des Präsidenten auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Einige treten so auf, als wären sie das Volk. Nur sie.

Als Grund für das Scheitern des Militärcoups in der Türkei wird, neben dem Dilettantismus der Putschisten, meist der fehlende Rückhalt im Volk genannt. Das stimmt. Nur sehr wenige Türken wollen nach der leidvollen Geschichte des Landes mit Staatsstreichen wieder von Soldaten regiert werden. Mit dem fehlenden Rückhalt im Volk ist es aber so eine Sache.

Zwar folgten auch Kritiker des Präsidenten dem Ruf von Recep Tayyip Erdogan und gingen in der Nacht des Putschversuches in Istanbul und Ankara auf die Straßen, um sich den Panzern und Soldaten in den Weg zu stellen. Doch viele von ihnen blieben lieber zu Hause. Wer sich die Geschichten dieser Menschen anhört, ihre Gedanken, während sie vor dem Fernseher saßen oder die Meldungen bei Twitter aufsogen, der spürt: Sie kämpften einen heftigen inneren Kampf. Ihr demokratisches Wertegerüst stand gegen den Wunsch, den Autokraten Erdogan, der ihnen sein Weltbild aufzwingen will, endlich los zu sein. Das Lager der Erdogan-Kritiker, das in etwa die Hälfte der Bevölkerung der Türkei ausmacht, stemmte sich nur halbherzig gegen den Putsch.

Das muss man beachten, wenn die Staatsführung und ihre Medien die Nacht vom 15. auf den 16. Juli als "Machtdemonstration des türkischen Volkes" beschreiben. Und das ist vor allem zu beachten, wenn Erdogan "das Volk" nun, wie am Sonntag, aufruft, weiterhin die großen Plätze des Landes zu besetzen. "Das ist keine Zwölf-Stunden-Aktion", sagte er. "Wir werden entschlossen weitermachen."

Einige Anhänger Erdogans gehen jetzt erst recht mit dem Selbstverständnis auf die Straße, dass sie das Volk sind – sie allein. Sie glauben mehr denn je, dass ihr Wille in diesem Land das Einzige ist, was zählt. Doch wer sich die großen Kundgebungen dieser Tage anschaut, sieht in noch geringerem Maße das Abbild einer pluralistischen Gesellschaft, als es in der Nacht des Putsches der Fall war.

Nach Frauen ohne Kopftuch muss man suchen

Die weitaus meisten Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul, von denen viele türkische Fahnen schwenken, sind Männer. Die Zahl der Frauen ist gering. Geradezu suchen muss man jene, die keine Kopfbedeckung tragen. Immer wieder ertönt der Ruf "Allahu Akbar", Gott ist groß.

Auf dem Platz scheinen sich fast ausschließlich AKP-Anhänger versammelt zu haben. So wirkt es zumindest. Etliche tragen rote Stirnbänder, auf denen in weißen Lettern "Erdogan" prangt. Hinzu kommen vermutlich ein paar Anhänger der nationalistischen MHP und Islamisten der "Glückseligkeitspartei" Saadet. Ein bisschen bunter wird diese Versammlung nur dadurch, dass hier und da auch irakische Flüchtlinge ihre Fahne schwenken und in die Allahu-Akbar-Rufe einstimmen.

Für feinsinnige Gemüter ist der Tumult im Lichte bengalischer Feuer nichts: Die Masseneinpeitscher, die auf dem Dach eines Busses stehen, rufen so inbrünstig in ihre Mikrofone, dass es in der Nähe der übersteuerten Lautsprecher nicht auszuhalten ist, wenn man nicht gerade gewohnt ist, täglich mit einem Presslufthammer zu hantieren.

Die türkische Gesellschaft ist viel mehr

Die Stimmung auf dem Taksim-Platz ist derart religiös aufgeladen, dass die Menschen mit Sicherheit nicht einmal die ganze Breite der großen Erdogan-Anhängerschaft abbilden. Und dass die türkische Gesellschaft noch wesentlich vielfältiger ist als diese, hat sich vor drei Jahren bei den Gezi-Protesten an gleicher Stelle gezeigt.

Viele der Menschen, die damals für weniger Erdogan'schen Paternalismus und eine offenere Gesellschaft auf die Straße gingen, trauen sich jetzt kaum vor die Tür. Wenn man von den Touristen mit ihren Selfie-Sticks absieht, waren die Bars und Cafés, die sich vom Taksim-Platz aus in den Stadteil Beyoglu ziehen, am Wochenende ziemlich leer. Einige, die sich trotzdem dort blicken lassen, sprechen von ihrer Angst vor einer "islamischen Revolution", vom Beginn der Transformation der Türkei zu einem Staat wie dem Iran.

Diese Sorge mag übertrieben sein. Und ein versöhnlicher Staatschef könnte sie mit ein paar klugen Worten schnell zerstreuen. Präsident Erdogan scheint daran allerdings kaum interessiert zu sein. Er hat den islamischen Exil-Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger als Drahtzieher des Putschversuchs ausgemacht und beginnt nun, Militär und Justiz gründlich zu "säubern". Nicht ausgeschlossen, dass dabei auch ein paar Oppositionelle weggeputzt werden, die weder etwas mit Gülen und schon gar nichts mit dem Putschversuch zu tun haben. Die Menschen, die Erdogan während der Gezi-Proteste als "Gesindel" bezeichnet hatte, sind ihm offenbar nicht einmal mehr ein paar versöhnliche Sätze wert, obwohl sie die Chance, ihn zu stürzen, nicht ergriffen haben. Und so verstärkt er den falschen Eindruck einiger seiner Anhänger noch, dass das türkische Volk jetzt ausschließlich aus Erdogan-Jüngern besteht.

Quelle: ntv.de

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