Politik

Viele Tote und zahlreiche Festnahmen Erdogan übersteht Putschversuch

Einen Tag nach dem tödlichen Anschlag von Nizza hält nun die Lage in der Türkei die Welt in Atem. Ein Putschversuch von Streitkräften kostet in einer chaotischen Nacht viele Menschen das Leben. Präsident Erdogan gibt sich selbstbewusst - und will Vergeltung.

Der Putschversuch von Teilen der Armee in der Türkei hat laut Ministerpräsident Binali Yildirim mindestens 265 Menschen das Leben gekostet. Bei 161 der Toten handelt es sich um regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten. Hinzu kommen 104 getötete Putschisten. Zudem soll es mehr als 1100 Verletzte geben, meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu.

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Viel Symbolik: Recep Tayyip Erdogan vor einem Porträt des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk.

(Foto: AP)

Präsident Recep Tayyip Erdogan zeigte sich nach einer chaotischen Nacht in Istanbul aber siegesgewiss: "Die Türkei wird nicht vom Militär regiert", sagte er. Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte den Putschversuch für gescheitert: "Wir haben es überstanden", so Yildirim. Die Militärkommandeure hätten die Kontrolle. Der Ministerpräsident kündigte an, dass die Putschisten hart bestraft werden. Er nannte sie "Vaterlandsverräter", die schlimmer als die PKK seien. Yildirim sagte, das türkische Volk habe sich gegen den Militärputsch gestellt und bedankte sich dafür. Das Volk habe der ganzen Welt gezeigt, wie wichtig die Demokratie der Türkei sei. Besonders die, die sich gegen die Panzer gestellt haben mit türkischen Flaggen in der Hand, sagte Yildirim.

Regierungskreisen zufolge sind fast 3000 mutmaßliche Umstürzler aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen worden. Fünf Generäle und 29 Oberste habe man ihrer Posten enthoben, hieß es am Samstagvormittag. Erdogan sagte, bei den Putschisten handele es sich um eine Minderheit in den Streitkräften.

Die Operationen gegen sie im Armee-Hauptquartier in Ankara dauerten am Vormittag an. Unter anderem in der Hauptstadt Ankara und in Istanbul hatte es Kämpfe und schwere Explosionen gegeben. Bei Luftangriffen der Putschisten auf das Parlament in Ankara wurde das Gebäude stark beschädigt. Einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge gab es Gefechte zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt.

Rückendeckung für Erdogan aus aller Welt

Yildirim hatte das Militär in der Nacht angewiesen, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen. Der Ministerpräsident bestellte alle Parteien für Samstagnachmittag zu einer Sondersitzung ins Parlament ein. Sowohl Erdogans islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Die AKP hat seit 2002 jede Wahl in der Türkei gewonnen. Erdogan ist ein wichtiger, aber umstrittener Partner der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise.

Die Bundesregierung, die Vereinten Nationen, die USA und die EU riefen zu Gewaltverzicht auf. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen. "Die Bundesregierung unterstützt die gewählte Regierung", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Das Auswärtige Amt riet allen Deutschen in Ankara und Istanbul zu "äußerster Vorsicht".

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verurteilte den Putschversuch und äußerte sich "zutiefst beunruhigt". EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, die Türkei sei ein Schlüsselpartner für die EU. "Die EU unterstützt voll und ganz die demokratisch gewählte Regierung, die Institutionen des Landes und die Herrschaft des Rechts."

US-Präsident Barack Obama appellierte an alle Parteien, die demokratisch gewählte Regierung zu unterstützen. Die Türkei müsse so schnell wie möglich wieder den Weg der Stabilität und Ordnung einschlagen, sagte ein Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Erdogans Regierung gehört zu den Gegnern von Syriens Präsident Baschar al-Assad und ist einer der wichtigsten Verbündeten der US-geführten Koalition im Kampf gegen die IS-Miliz. Etwa zwei Millionen syrische Flüchtlinge halten sich in der Türkei auf.

Mehrere Fluggesellschaften strichen Türkei-Flüge. In den türkischen Ferienzentren war die Lage nach Angaben der Tui ruhig. Der Reiseveranstalter Thomas Cook forderte Urlauber auf, "vorsichtshalber bis auf weiteres in ihren Hotels zu bleiben".

Erdogan beschuldigt Rivalen Gülen

In der Nacht hatten sich die Ereignisse in dem Land mit der zweitgrößten Nato-Streitmacht überschlagen. Am späten Freitagabend begannen türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan - nach eigenen Angaben, um unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederherzustellen. Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.

Zunächst hieß es in der Nacht, die Streitkräfte hätten die Macht in der Türkei übernommen. Das Präsidialamt bestritt dies: Erdogan sei nicht abgesetzt. "Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen." Erdogan rief das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf. Dem kamen viele Anhänger nach: Im Istanbuler Stadtteil Tophane gingen Dutzende Gegner des Putsches auf die Straße. Ein dpa-Reporter berichtete am frühen Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem "Gott ist groß!" und "Nein zum Putsch!" gerufen.

Der Präsident machte die Bewegung eines einstigen Verbündeten, des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, für den Putschversuch verantwortlich. "Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen", sagte Erdogan am Samstagmorgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Erdogan und Gülen, der in der Türkei inzwischen als Terrorist gilt, hatten sich 2013 überworfen. Gülen verurteilte den Putschversuch per Mitteilung scharf.

Quelle: ntv.de, wne/dpa/rts

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