Anschlag in Ankara "Erdogans Blatt wird schlechter"
10.10.2015, 16:09 Uhr
Ausnahmezustand und Trauer nach dem Anschlag in Ankara
(Foto: AP)
Der Türkei-Experte Udo Steinbach sieht zwei Verdächtige für den Anschlag in Ankara. Die Gewalt sei von Präsident Erdogan zuletzt bewusst inszeniert worden. Steinbach sagt: "Europa darf die Türkei unmöglich zu einem sicheren Herkunftsland erklären."
n-tv.de: Bei dem Anschlag in Ankara gab es zahlreiche Tote, Regierungsvertreter sprechen von einem Terroranschlag. Wer könnte hinter der Tat stecken?

Udo Steinbach ist Islamwissenschaftler und leitete bis 2007 das Deutsche Orient-Institut.
(Foto: imago stock&people)
Udo Steinbach: Es kommen eigentlich nur zwei Tatverdächtige infrage. Der erste ist der Islamische Staat (IS). Der Anschlag erinnert sehr stark an das Attentat von Suruç vor einigen Wochen, hinter dem ja auch der IS stand. Wenn es zutreffen sollte, dass es tatsächlich ein Selbstmordattentäter war, ist das ein weiteres Indiz in diese Richtung. Die zweite Möglichkeit ist, dass extrem nationalistische türkische Kreise hinter dem Anschlag stehen. Ihnen könnte daran gelegen sein, dass politische Klima in der Türkei mit Blick auf den Wahlkampf weiter aufzuheizen. Die Veranstalter der Friedensdemo waren linke Organisationen, die sich gegen den Krieg zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Arbeiterpartei PKK gestellt haben. Auch diese Dimension ist mit im Spiel.
Welche Reaktion der türkischen Regierung erwarten Sie jetzt?
Die politische Rechte und mit großer Wahrscheinlichkeit auch die regierende AKP von Präsident Recep Erdogan werden versuchen, den Anschlag in die extremistische kurdische oder liberale-linke Ecke zu schieben, um daraus Kapital zu schlagen. Der Vorsitzende der gemäßigten Kurdenpartei HDP Selahattin Demirtas hat vorsichtiger argumentiert. Er sagt, hinter der Tat stecke das Muster von Diyarbakır. In Diyarbakır fanden vor wenigen Wochen auch Explosionen statt, dahinter stand die türkische Rechte. Demirtas wird versuchen, eine liberale offene Haltung zu signalisieren, um zu zeigen: Es ist die Politik der Regierung gewesen, die in den vergangenen Wochen zu einer Verschärfung und insbesondere zum Konflikt zwischen Türken und Kurden geführt hat.
Anfang November ist die Wahl in der Türkei. Wem nutzt dieser Anschlag eher: Erdogan oder der HDP?
Eher der der gemäßigten Kurdenpartei HDP oder der CHP, der säkularen Linken. Es spricht sich in der Türkei herum, dass die Politik Erdogans und seine Verweigerung einer Regierungsbildung möglicherweise gespielt und die Gewalt inszeniert sein könnte, um die Wahlchancen der AKP zu verbessern. Die Kurdenpartei spielt ihre Karte sehr besonnen. Sie plädiert dauerhaft für einen Waffenstillstand zwischen PKK und Regierung. Insgesamt kann man sagen: Erdogans Blatt wird schlechter.
Ist eine Wahl nach diesem Anschlag überhaupt noch möglich?
Viele Menschen in der Türkei fragen sich seit langem, ob in diesem Klima der Polarisierung Wahlen möglich sind. Aber man muss davon ausgehen, dass sie einfach durchgezogen werden. Erdogan hat im Juli nicht sein gewünschtes Wahlergebnis, also eine Mehrheit, bekommen. Die möchte er sich jetzt im November holen. Deshalb werden die Wahlen stattfinden, und die innenpolitische Klima wird weiterhin heiß bleiben. Das ist ja in gewisser Weise von der Regierung auch intendiert. Seit Juli gibt es nur eine provisorische Regierung. Die Wahlen sind auch nötig, um wieder eine endgültige und legitime Regierung zu haben.
Die PKK hat ihre Kämpfer heute aufgerufen, alle Angriffe in der Türkei zu stoppen. Sehen Sie trotz des Anschlags Chancen für den Frieden?
Von Frieden kann im Augenblick keine Rede sein. Beide Seiten haben aufgerüstet, der türkische Staat und die PKK. Der PKK ist natürlich daran gelegen, dass die HDP gewinnt und eine kurdische Partei bei der Wahl zulegt. Wenn sie in die Regierung und ins Parlament käme, wäre sie eine starke Kraft, die auf eine Fortsetzung des Versöhnungsprozess hinwirken könnte. In dem Aufruf sehe ich also eher einen taktischen Schachzug der PKK. Die PKK ist nicht eng befreundet mit der HDP, aber sie ist sehr interessiert daran, dass die liberale Kurdenpartei ins Parlament kommt.
In Europa gibt es aufgrund der Flüchtlingskrise zurzeit die Diskussion darüber, ob die Türkei als sicheres Herkunftsland eingestuft werden soll. Wir würden Sie das nach dem heutigen Anschlag beurteilen?
Nicht nur vor dem Hintergrund des Anschlags, sondern vor dem Hintergrund der Politik Erdogans seit den Gezi-Protesten stelle ich fest: Die Türkei ist auf dem Weg, in einen autokratischen Staat abzurutschen. Rechtsstaatlichkeit ist nicht mehr gegeben, die Pressefreiheit wird mit den Füßen getreten und der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist bewusst inszeniert worden. In einer solchen Situation kann man die Türkei unmöglich zu einem sicheren Herkunftsland erklären.
Mit Udo Steinbach sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de