Sicherheitsexperte zum Gipfel "Putins Angriff auf die Kinderklinik war Botschaft an die NATO"
13.07.2024, 13:59 Uhr Artikel anhören
Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, Präsident Selenskyj war dennoch auf dem Gipfel stark beteiligt.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
In der vergangenen Woche attackierte Russland eine Kiewer Kinderklinik - ein feindlicher Gruß aus Moskau nach Washington, analysiert der Sicherheitsexperte Rafael Loss für ntv.de. Denn dort tagte die NATO und fand einige Antworten auf Putins Gewalt.
ntv.de: Die NATO findet sich seit dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine in einer veränderten Bedrohungslage wieder. Schafft sie es, sich dieser neuen Lage weiter anzupassen?
Rafael Loss: Die NATO muss sich verändern, das ist schon 2014, als der Ukrainekrieg begann, angestoßen worden und hat nun noch einmal an Fahrt aufgenommen. Mit Blick darauf hat man in Washington einiges entschieden, was dieses Momentum weiter verstärkt. Die USA wollen von 2026 ab Marschflugkörper mit hoher Reichweite in Deutschland stationieren. Das hat es seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben.
So will die NATO Europas Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland erhöhen. Aber zahlen diese Marschflugkörper auch schon ein auf das NATO-Ziel, Putin gegenüber Stärke zu demonstrieren?
Ja, diese neuen Waffen sind ein Signal der Stärke an Putin.
Wie blickte Putin denn nach Washington?
Eines können wir auf jeden Fall feststellen: Putin und der Kreml haben versucht, der NATO Signale zu senden. Eines mit dem Angriff auf das Kinderkrankenhaus in Kiew, ein weiteres mit dem Haftbefehl gegen Julia Nawalnaja, die Witwe des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Das waren Botschaften Putins an die NATO.
Mit dem Inhalt: "Ihr könnt mir gar nichts"?
Genau. Wenn man sich zurückerinnert an die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar: Dort schlug die Nachricht vom Tod Nawalnys ja quasi auf der Bühne ein. Insofern hat Putin ein Gespür dafür und sah jetzt die Notwendigkeit, Signale in die Welt zu schicken, die zeigen sollen: Ich veranstalte hier in der Ukraine, was ich will - die NATO kann nichts dagegen tun, sie ist ein Papiertiger. Dem wollen die Bündnisstaaten ein anderes Narrativ entgegenstellen. Zum Beispiel mit der Stationierung dieser Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Darauf hat Putin ja ziemlich prompt reagiert.
Die unmittelbare Kritik, geradezu Hysterie, die sich in Moskau um diese Raketen-Entscheidung entspann, zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Der Politologe Rafael Loss forscht am European Council on Foreign Relations zu deutscher und europäischer Sicherheitspolitik und dem transatlantischen Verhältnis.
Der Kreml nannte die Raketen eine "Kette im Eskalationskurs". Betritt die NATO damit tatsächlich ein neues Niveau der Abschreckung in Europa?
Der Kreml blendet dabei geflissentlich aus, dass er selbst Waffen dieser Art schon lange in seinen Depots hat. In den 1980er-Jahren schlossen die USA und Russland einen Vertrag ab, der es beiden Mächten gleichermaßen verbot, bodengestützte Mittelstreckenraketen zu produzieren oder im eigenen Arsenal zu behalten. 2019 hat die NATO festgestellt, dass Russland diesen Vertrag gebrochen hatte. Es hat Waffen dieses Typs entwickelt und stationiert. Daraufhin sind die USA aus dem Vertrag offiziell ausgetreten. Mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland reagiert die NATO nun einerseits auf Russlands damalige Entscheidung, solche Waffen trotz Verbot zu produzieren und auf seinen Einmarsch in der Ukraine. Ohne diese beiden Faktoren - Vertragsbruch und Vollinvasion - hätte Deutschland dieser künftigen Stationierung wohl auch kaum zugestimmt.
Mit anderen Worten: Der Kreml hatte mit Blick auf Mittelstreckenraketen viel früher "eskaliert"?
Ja, darum ist der Eskalationsvorwurf hanebüchen. Ebenso hanebüchen ist die Ankündigung, auf die NATO-Stationierung jetzt mit neuer Waffenentwicklung reagieren zu wollen. Diese Waffenentwicklung hat bereits stattgefunden und Moskau hat diese Waffen schon stationiert. Zumal Russlands Raketen mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet werden können. Die von Deutschland und den USA geplanten Stationierungen sind rein konventionell. Ein nukleares Wettrüsten will die NATO in keiner Weise befördern.
Bei dem NATO-Ansinnen, Putin gegenüber bestimmt aufzutreten, können wir also schon mal einen Haken machen. Wie sieht es beim Thema Ukraine aus?
Ein enormer Unterschied zum vergangenen Gipfel in Vilnius ist, dass die NATO dieses Jahr einen offenen Konflikt vermeiden konnte. Durch Vorbereitung, durch Erwartungsmanagement und dadurch, dass sie im Vorfeld bereits weitestgehend bekannt gemacht hat, was im Abschlussdokument stehen würde. So bot es für Journalistinnen und Thinktanker keine großen Überraschungen.
Für die Ukraine auch nicht, oder? Dass sie keine Einladung zu einem Beitrittsprozess bekommen würde, stand ja auch schon vorher fest.
Ja, und auch mit Blick auf neue Waffen-Zusagen fällt das Gipfel-Ergebnis mager aus. Das von US-Präsident Biden angekündigte zusätzliche Patriot-System war schon zuvor bekannt und die IRIS-T SLM Systeme zur Luftverteidigung hat Deutschland auch schon vor einiger Zeit öffentlich gemacht.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte die Ukraine-Hilfe festschreiben mit einem Budget von 100 Milliarden Euro über mehrere Jahre. Warum ist das nicht gelungen?
Die Pläne von Stoltenberg mutierten langsam aber sicher zu einer Bereitschaft, das jetzige Niveau auch im kommenden Jahr beizubehalten und dann einmal zu schauen. In einigen NATO-Ländern stehen mehrjährigen Zusagen, wie sie Stoltenberg ursprünglich vorschwebten, haushaltsrechtliche Hürden im Weg. Damit ist die gewünschte Verstetigung nicht erreicht worden und die 40 Milliarden, die für das kommende Jahr beschlossen wurden, sind auch kein zusätzliches Geld oder zusätzlicher Aufwand. Das ist die Zusammenfassung dessen, was die einzelnen NATO-Staaten im kommenden Jahr an die Ukraine geben. Immerhin gibt es im Abschlussdokument einen Verteilerschlüssel, nach dem die Lasten zugeordnet werden sollen.
Wie hat sich die Struktur der Ukraine-Hilfe ansonsten verändert?
Die NATO-Alliierten bemühen sich darum, die Last der Unterstützung von den USA auf die anderen Mitglieder zu übertragen. Oder auf die Allianz als Ganzes. Das Ramstein-Format wird als politisches Entscheidungsforum erhalten bleiben. Aber alles, was die US-Streitkräfte bislang an Hilfe koordiniert haben, Logistik, Ausbildung, das soll zukünftig die NATO machen. Darin enthalten ein gemeinsames Analyse-, Ausbildungs- und Trainingszentrum in Polen. Ziel ist, dass auch im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump solche Aufgaben ohne Zutun der USA erledigt werden können.
Das ist ja schon ein Teil des NATO-Ziels, "Trump-proof" zu werden, also handlungsfähig, auch wenn die USA in Zukunft ein wackliger Partner werden sollten. Hat's geklappt?
Laut Jens Stoltenberg hat der Gipfel in Washington gezeigt, wie sehr der Fortbestand der NATO im Interesse der USA liegt. Zum einen sind es mittlerweile immerhin 23 Mitgliedsstaaten, die zwei Prozent oder mehr ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben. Und das wird auch in Fähigkeiten übersetzt. Ein weiterer Faktor ist die hohe Unterstützung für die NATO in demokratischen und republikanischen Rängen. Das Gleiche gilt für den Kongress.
Wie hat sich diese Unterstützung konkret gezeigt?
In einzelnen Gesprächen haben Mitglieder des US-Kongresses Stoltenberg versichert, dass ihnen der Wert der NATO für die USA bewusst ist. Abgeordnete beider Parteien aus Senat und Repräsentantenhaus trafen sich zu zahlreichen Gesprächen mit alliierten Regierungschefs und Ministern. Mike Johnson, der republikanische Mehrheitsführer, der das letzte große Unterstützungspaket für die Ukraine lange im Kongress aufgehalten hat, sprach mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Das hätte ich nicht erwartet, und das wäre vor einigen Monaten ziemlich undenkbar gewesen, dass Johnson sich da auch gegenüber Kritikern aus den eigenen Reihen so exponiert.
Was konnte noch erreicht werden auf dem Weg zur Trump-Resistenz?
Ganz grundsätzlich sind die USA im Kontext der NATO nicht zu ersetzen. Nicht als politische Führung und nicht mit Blick auf die militärischen Fähigkeiten, gerade wenn es um strategische Fähigkeiten geht. Aber man kann die Lastenverteilung ändern, damit die europäischen Länder für Verteidigung und Sicherheit im euroatlantischen Raum die Hauptlast tragen. Das ist übrigens eine Frage, die nicht nur Donald Trump als US-Präsident umtrieb, sondern auch viele Präsidenten vor ihm. Es hat nun erst den größten Krieg in Europa seit 1945 erfordert, damit wir beginnen, diese Aufgabe auch ernsthaft anzugehen.
Für Joe Biden ist der Gipfel okay, aber nicht optimal gelaufen. Er hatte über den Gipfel verteilt einige Versprecher. Die NATO unterstützt ihn offiziell voll und ganz. Aber was wurde auf den Fluren im Kongresszentrum geredet?
Intern bestehen schon gewisse Zweifel. Aber auch öffentlich haben sich einige demokratische Senatoren und Kongressabgeordnete während des Gipfels dafür ausgesprochen, dass Joe Biden aus dem Rennen aussteigt. Das war gegen die Absprachen, solche Aussagen auf die Zeit nach dem Gipfel zu verschieben. Es gab diese Absprachen, damit die Allianz in besserem Licht dasteht. Nun haben diese Äußerungen die Debatte zum Teil noch weiter befeuert. Hier eine Entscheidung herbeizuführen, ist Sache der Demokratischen Partei. Die Wahl liegt letztlich bei den amerikanischen Wählerinnen und Wählern. Europäer müssen sich mit dem Ergebnis arrangieren, egal wie es im November ausfällt.
Mit Rafael Loss sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de