Politik

Wieduwilts Woche Fischstäbchenpizza in der Hasshölle

Auch friedliche Fischstäbchen machen die Zwitscherplattform gelegentlich zauberhaft.

Auch friedliche Fischstäbchen machen die Zwitscherplattform gelegentlich zauberhaft.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Bundeskanzler ist jetzt auf Twitter. Dort wohnen dem Bonmot zufolge "nur Politiker, Journalisten und Psychopathen". Die Plattform zeigt sich derzeit wahrlich von ihrer grässlichsten Seite - und vielleicht kollabiert gerade, was ein Seismograph für den Zeitgeist sein könnte.

Twitter schafft sich ab. Die Plattform wurde lange belächelt, von PR-Profis aber bald geschätzt als Tummelplatz für Journalisten, Politiker und Wissenschaftler. Konzentrierter und gebildeter als Facebook, ernsthafter als Instagram und nicht so entsetzlich angeberisch wie LinkedIn. Vielleicht liegt es an der Pandemie und den blank liegenden Nerven. Aber in den letzten Tagen hat sich der früher so genannte "Kurznachrichtendienst" gewandelt.

Vielleicht denken Sie: Twitter, wen interessiert‘s? Doch die Plattform hat unweigerlich Gewicht, sie debattiert in Echtzeit, was ein paar Stunden später geordneter in den Nachrichten erscheint - wenn es gut läuft. Twitter ist ein legendär schneller Nachrichtenticker, berühmt etwa bei der Notlandung im Hudson-River im Jahr 2009. Gerade hat immerhin Olaf Scholz den ersten @Bundeskanzler-Kanal auf Twitter eröffnet.

Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien ging den umgekehrten Weg: Die CDU-Politikerin meldete sich von der Plattform ab, vorübergehend, gibt jetzt klassische Interviews. Da ist auch die Gefahr geringer, dass man sie, zum Beispiel, wegen ihrer jüdischen Herkunft attackiert. Denn das gehört zum Einmaleins der Twitter-Guerilla, den Gegner auf vermeintliche biografische Schwachstellen abzuklopfen. Herkunft, Kinder, Arbeitgeber, Geschäftspartner, Freunde, kleinste Fehler der Vergangenheit - Dreckschleudern sind nicht wählerisch, für sie ist alles Dreck.

Brutalstmögliche Gefühligkeit

Karin Prien zitierte im Interview mit der "Welt" nun das Bonmot von den Psychopathen. Es stammt von der früheren Digitalministerin Dorothee Bär, eine der digitalaffinsten Politikerinnen überhaupt. Prien, das muss man klarstellen, hat sich mindestens ungeschickt verhalten und womöglich auch eine falsche Politik verfolgt. Obwohl sie ihrem Tweet einen empathisch klingenden Satz voranstellte, klang er in den Ohren betroffener Eltern nach einer Relativierung von Leid.

"Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit COVID_19 und nur extrem selten wegen COVID_19", schrieb die Politikerin.

Auch Kommunikationsprofis wie Marina Weisband finden den darauffolgenden Shitstorm in Ordnung: Wegen der Gefühle der Shitstormenden. Was die Liberale Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zurecht als "enthemmten Mob" bezeichnete, seien von "ehrlicher Wut betroffene Bürger*innen", so Weisband. Das ist ein Klassiker unserer Zeit, brutalstmögliche Gefühligkeit, die eigene Betroffenheit legitimiert auch verbale Gewalt. "No Hate", kein Hass, das gilt nur, solange man nicht selbst stinksauer ist. Weisband ist Mutter, Leutheusser-Schnarrenberger nicht.

Man rauft sich also zu einer Betroffenengruppe zusammen, etwa mit dem Hashtag "Schattenkinder". Da ist das Verständnis eingebaut, wer unter diesem Banner läuft - ob nun selbst betroffen oder nicht - kann kein schlechter Mensch mehr sein. Die FAZ berichtete gerade, dass Verlage inzwischen Autoren "Empfindlichkeitsexperten" zur Seite stellen, die mit dem Blick aller Betroffenengruppen das Manuskript um mögliche Reizpunkte bereinigen helfen. Empfindlichkeitsexperten meint hier auch Frauen und Diverse, das klarzustellen empfiehlt mir gerade mein Empfindlichkeitsexperte.

Auch "Spaziergänger" haben Gefühle

Eine Untersuchung über Impf-Debatten auf Twitter zeigte kürzlich, dass die Auseinandersetzung von Emotionalisierung, einem "Wir gegen die"-Gefühl und einzelnen Einpeitscher-Accounts geprägt ist. So jedenfalls fühlte sich auch die (übrigens anhaltende) Schlacht um den Fall Prien an. Gefühle schlagen Fakten. Follower müssen nicht selbst prüfen, ob das Gezeigte wirklich so saudumm, saukomisch, sauempörend ist - und wenn sie es tun, stellen sie sich nicht gegen die eigene Horde. Dass darunter auch "ehrlich" betroffene Bürger sind, ist offensichtlich - übrigens so, wie man auch unter rechtsradikalen "Spaziergängern" ehrlich betroffene Bürger findet: Auch die berufen sich auf Gefühle.

Menschen und Politiker rufen im Hass-Tiegel nach Recht und Ordnung: Doch das sind nicht die richtigen Instrumente. Das funktioniert nicht, das Recht ist keine Debatten-Nanny. Das Bundesverfassungsgericht hat, ganz im Gegenteil, regelmäßig betont, dass Schärfe zur Auseinandersetzung gehört. Die Ausnahmen sind eng, echte Beleidigungen etwa oder Lügen. Da im Netz anders als im Gespräch einer flotten Beleidigung keine Entschuldigung folge, entschieden die Richter kürzlich, müsse das Recht gegen Diffamierung schützen.

Was passiert, wenn ein Schwarm wie die zwitschernden Vögel bei Twitter den falschen Kurs einlegt, konnte man ebenfalls in dieser Woche beobachten. Auf einem apokalyptischen Video aus Chihuahua, Mexiko, sieht man einen Vogelschwarm praktisch ungebremst in den Asphalt rasen, die meisten Vögel kommen davon, aber Hunderte bleiben bei diesem Straßentauchgang regungslos liegen. Ist es das, was gerade passiert?

Eine Runde Squash in der Klärgrube

Autoren, Politiker, sogar Bürgerrechtler mit mildem Temperament, Journalisten und Wissenschaftler kehren der Plattform den Rücken. Die verbleibenden verhaken sich in kindische Streitereien: Am Mittwoch zankten sich zwei bekannte Ökonomen unerbittlich - die sieht man sonst nur wohltemperiert in Fernseh- und Zeitungsinterviews. Entzaubernd. Sie picken einzelne, womöglich verrutschte Formulierungen des anderen heraus und buhlen vor dem eigenen Publikum um Beifall. Twitter sieht dann aus wie eine Runde Squash in der Klärgrube: Keiner der Spieler kommt da sauber wieder heraus.

"Die Pandemie tut uns nicht gut", schrieb Jan Böhmermann vor einiger Zeit. Die meisten Menschen laufen nach zwei Jahren Corona nervlich auf der Felge. Sie können nicht mehr, besonders Eltern, ganz besonders Kinder und Jugendliche. Letztlich hat jeder sein eigenes, persönliches Corona-Schicksal zu schultern. Unberührt kommt wohl keiner da durch. "Wir werden uns viel verzeihen müssen", meinte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn - aber, siehe oben, im Netz geht verzeihen ja nicht. Insofern ist das Twitter-Sterben womöglich nur die Folge davon, dass wir auf die ohnehin schon "große Gereiztheit" (Bernhard Pörksen) noch einmal nervliche Belastungen draufsatteln.

Nur das erste Twittersterben

Das ist tröstlich und düster zugleich: Denn mit dem Abflauen der akuten Pandemie und einer erträglicheren (wenn auch nicht harmlosen) Endemie könnte sich die Konversationskultur wieder berappeln. Es bedeutet aber auch, dass mit den nahenden Klimaverschärfungen, den neuen Zwängen, Ungerechtigkeiten und Stressfaktoren bald wieder ein Vogelschwarm auf den Erdboden zusteuert. Ist es nur das erste Twittersterben?

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Die Zwitscherplattform kann auch heute noch ein zauberhafter Ort sein. Der Satiriker Dax Werner versucht gerade mit allen Mitteln @bundeskanzler Scholz dazu zu bewegen, ihm seinen ersten "Like" zu schenken. Mit ähnlichem Humor schaffte es "Stullen-Andi" eine von ihm ausgedachte TK-Fischstäbchen-Pizza bei Dr. Oetker durchzuprügeln - das ist auch Werbung, aber sie ist geistreicher als im Fernsehen.

Man findet auf Twitter fachliche Debatten zu vielen Themen, feine Beobachtungen, literarische Miniaturen und manchmal sogar Versöhnungen nach bitterem Streit. Schwerstkranke finden Trost und Zuspruch - manchmal.

Es wäre, will ich sagen, schade drum.

Quelle: ntv.de

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