Politik

"Größter Stromraub aller Zeiten" Wie Russland das AKW Saporischschja stehlen will

Seit Anfang März ist das Atomkraftwerk Saporischschja unter Kontrolle der russischen Besatzer.

Seit Anfang März ist das Atomkraftwerk Saporischschja unter Kontrolle der russischen Besatzer.

(Foto: REUTERS)

Seit Wochen wird das Atomkraftwerk Saporischschja angegriffen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Artilleriegeschosse auf oder neben dem Gelände einschlagen. Es sieht so aus, als würde Russland hinter den Angriffen stecken. Dabei wollen die Kreml-Invasoren der Ukraine eigentlich den Strom abzapfen.

Seit Monaten verschanzen sich russische Soldaten im AKW Saporischschja, dem größten Kernkraftwerk Europas, und beschießen von hier aus ukrainische Stellungen auf der anderen Seite des Dnipro. Immer häufiger wird aber auch das AKW selbst, etwa 50 Kilometer von der gleichnamigen Großstadt Saporischschja entfernt, zum Ziel von Angriffen. Seit Ende Juli schlagen Granaten auf dem Gelände und in der direkten Umgebung ein. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, zu eskalieren.

Zuallererst hatte sich tatsächlich das ukrainische Militär zu einem Drohnenangriff in der Nähe des Kraftwerks bekannt. Mit Kamikaze-Drohnen habe man eine Zeltstadt und feindliche Technik angegriffen, hieß es Ende Juli vom Militärgeheimdienst in Kiew.

Mittlerweile sind es aber, wie es aussieht, die Russen selbst, die das Kraftwerksgelände angreifen. Ein ukrainischer Kraftwerksingenieur sagte der BBC, die Russen wüssten genau, wo sie das Gelände treffen könnten, damit es "schmerzhaft", aber "nicht tödlich" ist.

Seinen Aussagen zufolge feuern die Russen von einem nahegelegenen Industriegelände auf das Atomkraftwerk. Dafür spricht, dass die Geschosse vor dem Einschlag auf dem AKW-Gelände nur wenige Sekunden in der Luft zu sehen und zu hören seien, wie Augenzeugen vor Ort berichten.

Artilleriegeschosse? Das kleinere Übel

Die Besatzer spielen mit den Ängsten der Menschen vor einem neuen Tschernobyl und geben dafür der Ukraine die Schuld, das scheint die Strategie der Russen zu sein.

Die Artilleriegeschosse, die auf dem AKW-Gelände einschlagen, sind dabei aber sogar noch das kleinere Übel. Nach Einschätzung von Nuklearexperten entsprechen die mehrfach nachgerüsteten Reaktoren des Kraftwerks Saporischschja "durchaus westeuropäischen Sicherheitsstandards". Die Schutzhüllen um die Reaktorblöcke sind so ausgelegt, dass sie einem Flugzeugabsturz standhalten. Einzelne Geschosse können dem Atomkraftwerk also wenig anhaben.

Gefährlicher wird es, sollte Russland tatsächlich versuchen, das AKW an das russische Stromnetz anzuschließen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet eine "groß angelegte Provokation" am Atomkraftwerk, mit dem Ziel, eine Abkoppelung des AKWs vom ukrainischen Stromnetz zu rechtfertigen.

Dafür müssten die russischen Besatzer sämtliche Überlandstromleitungen zum AKW kappen und auf Notstrom umsatteln, erklärt Petro Kotin, der Präsident des ukrainischen AKW-Betreibers Enerhoatom. "Die Situation ist sehr gefährlich, weil es nur noch eine funktionierende Verbindungsleitung zum ukrainischen Stromnetz gibt."

20 Dieselgeneratoren entscheiden über AKW-Schicksal

Die Russen hatten Anfang August bereits drei Stromleitungen beschädigt, derzeit hängt das Atomkraftwerk nur noch an einer einzigen. Um das AKW umzukoppeln, müsste Russland auch die letzte Leitung trennen. "Dann gibt es einen Stromausfall", mahnt Kotin. In diesem Fall hinge das Schicksal des Kraftwerks von 20 Dieselgeneratoren ab, die die Kühlung der Reaktorblöcke und Brennstäbe sichern müssten.

Das Kernkraftwerk vom ukrainischen ans russische Stromnetz anzuschließen, würde laut Kotin etwa drei Tage dauern. "Alles wird davon abhängen, wie lange die Generatoren durchhalten und wie verlässlich sie sind", sagt Kotin. Der Kraftwerkspräsident geht von zehn Tagen aus. Nur habe niemand je überprüft, ob die Generatoren wirklich zehn Tage funktionieren. Die russischen Besatzer seien derzeit auf der Suche nach Treibstofflieferanten für die Dieselgeneratoren, teilt Enerhoatom mit.

Die Ukraine und Nachbarland Moldau hatten sich kurz nach Kriegsbeginn vom gemeinsamen Stromnetz mit Russland abgekoppelt und sich dem europäischen Stromnetzverbund angeschlossen. Russland will das größte Kernkraftwerk Europas nun aber offensichtlich wieder ans eigene Netz anschließen und die annektierte Krim mit Strom aus dem besetzten AKW versorgen. Anschließend könnten auch die besetzten ukrainischen Gebiete mit dem russischen Netz synchronisiert werden.

Russland ist auf Fachkräfte angewiesen

Russland wolle "die Infrastruktur des Kraftwerks zerstören, die Übertragungsleitungen beschädigen und einen Stromausfall im Süden der Ukraine verursachen", teilte die ukrainische Regierung zuletzt in einem Schreiben an die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO mit.

Einfach abschalten kann Russland das AKW jedenfalls nicht. Danach wäre es nicht mehr so leicht in Betrieb zu nehmen, analysiert das "Wall Street Journal". 11.000 Menschen haben vor der russischen Invasion auf dem Gelände gearbeitet, Tausende sind längst geflohen. Im Falle einer Abschaltung des Kernkraftwerks würden wahrscheinlich noch mehr Beschäftigte fliehen. Russland ist aber auf die Mitarbeiter angewiesen. Die Besatzer selbst hätten zu wenige Fachkräfte, sagen Nuklearexperten.

Stattdessen wollen die Kreml-Truppen die Elektrizität stehlen. "Das wäre der größte Stromraub aller Zeiten", zitiert das "Wall Street Journal" einen amerikanischen Energieexperten.

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Quelle: ntv.de

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