Lauterbach bei ntv "Ich hätte die Impfung wahrscheinlich fortgesetzt"
16.03.2021, 18:08 Uhr
Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach übt ausdrücklich keine Kritik an der Entscheidung von Gesundheitsminister Spahn, den Astrazeneca-Impfstoff zu stoppen. Doch für alternativlos hält er diese keineswegs. Im Interview mit ntv erklärt er, was er anders gemacht hätte.
Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach übt ausdrücklich keine Kritik an der Entscheidung von Gesundheitsminister Spahn, den Astrazeneca-Impfstoff zu stoppen. Doch für alternativlos hält er diese keineswegs. Im Interview mit ntv erklärt er, was er anders gemacht hätte.
ntv: Wie hoch oder niedrig ist die Wahrscheinlichkeit, eine Gehirnvenenthrombose zu erleiden, wenn man mit dem Astrazeneca-Vakzin geimpft wird?
Karl Lauterbach: Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau, aber von den Fällen, die wir jetzt ausgewertet haben, ist im Überschlag wahrscheinlich einer von 250.000 Geimpften betroffen. Möglicherweise wird diese Zahl noch etwas sinken, aber tatsächlich ist das die Größenordnung, über die wir zum jetzigen Zeitpunkt, was die Daten angeht, sprechen.
Wäre es denn Ihrer Ansicht nach ethisch verantwortbar und politisch durchsetzbar gewesen, weiter zu impfen und die Thrombose-Frage gleichzeitig, während man impft, von der EMA klären zu lassen?
Aus meiner Sicht wäre das politisch vertretbar gewesen, man hätte es aber sehr transparent machen müssen. Man hätte sagen müssen: Das ist das Risiko. So hätten die ganz wenigen Fälle, die betroffen gewesen wären, auch früher behandelt werden können, und man hätte die Prüfung dann bei laufender Impfung gemacht. Man kann das aber auch anders entscheiden. Also ich kritisiere ausdrücklich nicht Gesundheitsminister Spahn. Er hat zwar anders entschieden, als ich es empfohlen hätte, aber man kann das so oder so sehen. Also ich glaube, dass eine Prüfung unbedingt notwendig ist. Aber ich hätte in dieser Zeit wahrscheinlich die Impfung fortgesetzt. Denn wir sind mitten in der dritten Welle, und gerade ältere Menschen haben einen viel größeren Nutzen von dem Impfschutz, gegen den das Thrombose-Risiko jetzt steht.
Markus Söder fordert ja auch, dass man die Priorisierung aufhebt und alle impft. Einige Fachpolitiker sagen, das wäre sogar rechtlich möglich. Sehen Sie diesen Schritt in naher Zukunft?
Den halte ich für falsch, denn ein Impfstoff muss da eingesetzt werden, wo er den größten Nutzen bringt. Der Nutzen ist, bei dem Astra-Impfstoff zum Beispiel, bei den Achtzigjährigen sechshundertmal so groß wie bei den Dreißigjährigen, das muss man ins Verhältnis bringen. Je knapper der Impfstoff ist, desto wichtiger ist es, dass man diejenigen zuerst impft, die das größte Risiko tragen.
Es ist zu erwarten, dass einige in Deutschland das Vertrauen in Astrazeneca verloren haben. Haben Sie Vergleichszahlen parat, wie häufig schwere Nebenwirkungen bei Astrazeneca sind, im Vergleich zu den anderen Impfstoffen, die gerade verimpft werden und die einen viel besseren Ruf haben, Biontech/Pfizer zum Beispiel?
Man kann das sehr schwer vergleichen. Es gibt Thrombosen auch bei den Geimpften mit Biontech, das sind aber, genauso wie bei Astrazeneca, Thrombosen, die man bei Nicht-Geimpften genauso häufig sieht. Man muss aber die allgemeinen Thrombosen, die es zum Beispiel auch bei der Anti-Baby-Pille gibt, abgrenzen von dieser Thrombose im Gehirn, die Sinusvenen-Thrombose, die auch nur mit einem hämolytisch-urämischen Syndrom einhergehen, was eine sehr, sehr schwere Gerinnungsstörung ist, die plötzlich auftritt und wahrscheinlich auf den Impfstoff zurückgeht. Somit muss man unterscheiden: Es gibt solche und solche Thrombosen. Die normalen Thrombosen sind wahrscheinlich nicht erhöht, weder bei Astrazeneca noch bei Biontech, aber diese spezielle Thrombose, die man sonst sehr selten sieht, wahrscheinlich nur fünfzig Mal im Jahr in ganz Deutschland, die ist hier zu sehen. Da könnte es sehr gut sein, davon gehe ich persönlich auch aus, dass sie auf den Astra-Impfstoff zurückgeht. Möglicherweise sind nur einige Chargen betroffen. Es kann sein, dass es ein generelles Problem ist, aber das Risiko muss genau geprüft werden.
Können Sie erklären, wieso der Vergleich mit der Anti-Baby-Pille und den Thrombosen hinkt?
Die Thrombosen, die es bei der Anti-Baby-Pille manchmal gibt, die haben mit dieser schweren hämolytisch-urämischen Syndrom-Thrombose im Hirnvenensystem nichts zu tun, das ist ein ganz anderer Mechanismus. Die Rarität ist die gute Nachricht: Was bei Astra passiert, ist eine Rarität, das sind wenige Fälle. Die schlechte Nachricht ist, dass es natürlich ungleich gefährlicher ist, somit kann man das wirklich nicht miteinander vergleichen.
Was das Vertrauen der Menschen in Astrazeneca betrifft, scheint das Kind in den Brunnen gefallen zu sein. Was können Sie, was können andere Gesundheitspolitiker, was kann die Bundesregierung tun, um das Kind da wieder herauszuholen?
Die Prüfung muss jetzt durchgeführt werden, und dann müssen wir die Ergebnisse der Prüfung ganz klar kommunizieren, das Risiko ins Verhältnis setzen. Und ich glaube, dass die Menschen auch sehr schnell verstehen, dass der Schutz, der von dem Impfstoff ausgeht, gerade für Ältere, viel wichtiger ist und viel mehr wiegt als das sehr seltene Thrombose-Risiko. Man muss auch sagen, dass auch diejenigen, die Covid bekommen, ein großes Thrombose-Risiko haben. Viel höher als das Thrombose-Risiko mit dem Impfstoff. Wenn wir das offen und klar kommunizieren, dann glaube ich, ist das Vertrauen wieder herstellbar. Aber es wird eine Zeitlang dauern.
Sollte das nicht gelingen - ist denn Entlastung in Sicht nach Ihrer Kenntnis durch ein neues, anderes Vakzin, das zeitnah zugelassen oder, falls schon zugelassen, geliefert werden könnte?
Hier kommt nur der Johnson&Johnson-Impfstoff infrage, da gibt es allerdings auch Produktions- und Lieferprobleme. Ich glaube, dass dieser realistischerweise erst im Mai zur Verfügung stehen wird. Somit hätten wir tatsächlich, wenn der Astra-Impfstoff ausfallen würde, ein großes Problem. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das der Fall ist. Ich glaube, dass die europäische Zulassungsbehörde hier den Impfstoff prüfen wird und danach die Impfungen fortgesetzt werden können, sodass wir kein Impftempo verlieren.
Wackelt jetzt das Impfversprechen der Bundesregierung?
Ich glaube nicht, dass der Impfstoff dauerhaft weg vom Markt geht, sondern dass er nach einer Prüfung, die vielleicht eine Woche dauern wird, dann wieder im Einsatz sein wird. Dann wird das Impfversprechen weiter zu halten sein.
Was bedeutet dies jetzt für die aktuelle Krisenstrategie? Könnte es sein, dass wir aufgrund der dritten Welle erstmal zurück in den Lockdown müssen, bis sich die Situation stabilisiert?
Also der Lockdown hat mit der Impfstrategie nichts zu tun. Das hätte hier keinen großen Unterschied gemacht. Wir sind sowieso in der dritten Welle angekommen, und ich glaube, je früher wir wieder auf die Regelungen des Lockdowns vom siebten März zurückkommen, umso besser ist das für uns. Wir müssen dann nicht so lange im Lockdown bleiben. Wir sind tatsächlich im Moment in einer Entwicklung, welche über die Mutation das Fallgeschehen so antreibt, dass wir etwas machen müssen, sonst sind in wenigen Wochen die Intensivstationen komplett überfüllt.
Einige Länder müssten jetzt die Notbremse ziehen, die in dem letzten Beschluss vermerkt worden ist. Sie tun das aber nicht. Wie muss man damit jetzt umgehen, was fordern Sie?
Das ist ein Fehler. Wenn jetzt Länder die Notbremse, die wir ja gemeinsam beschlossen haben, hier in Berlin, nicht wirklich ziehen, dann tut man damit niemandem einen Gefallen. Wir verlieren Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung, weil eine Notbremse wirklich eine Notbremse ist und dann auch kommen muss, wenn sie nötig ist. Zum zweiten tun wir uns auch keinen Gefallen damit, weil wir dann nach hinten umso länger im Lockdown sind.
Tübingen ist einen ganz eigenen Weg gegangen, würden Sie diesen als Blaupause für Deutschland beschreiben oder ist das zu individuell speziell?
Ich glaube, dass der Weg in Tübingen ein Weg ist, der langfristig eine Rolle spielen kann, aber wir brauchen eine andere Strategie. Wir müssen in den Schulen und in den Betrieben zweimal pro Woche testen. Das würde wirklich einen Riesenunterschied machen. Da finden die Gespräche ja derzeit auch statt. Das ist der, aus meiner Sicht, zu bevorzugende Weg. Der Weg in Tübingen ist nicht überall so umsetzbar. Sagen wir mal, wenn beispielsweise die Gastronomie wieder geöffnet wird, würde das sehr schnell die Fallzahlen explodieren lassen. Das hielte ich für falsch.
Was erwarten Sie konkret von der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am Montag?
Dass wir uns auf die Notbremse verständigen, dass wir tatsächlich Wort halten und in den Lockdown zurückgehen, sonst explodieren uns die Zahlen. Und dass wir auf die Konsequenzen, die beim Impfen durch den vorübergehenden Stopp der Astra-Verimpfungen folgen, eingehen werden.
Mit Karl Lauterbach sprachen nacheinander Christoph Teuner und Franca Lehfeldt.
Quelle: ntv.de