Wenn Helfer zu Opfern werden In Syrien geht der Rest Zivilisation verloren
20.09.2016, 13:13 Uhr
78.000 Menschen sollten sie mit ihrer Fracht helfen, doch der Konvoi von UN und Internationalem Roten Kreuz wurde beschossen, bevor er sein Ziel westlich von Aleppo erreichte.
(Foto: REUTERS)
Praktisch alle Staaten der Welt haben sich auf grundsätzliche Regeln im Umgang mit Verwundeten, Hungernden und ihren Helfern geeinigt. Diese Errungenschaft gerät zusehends in Vergessenheit.
Die Vereinten Nationen (UN) stellen vorübergehend ihre Hilfslieferungen in Syrien ein. Der Grund dafür: Am Montag wurde ein Hilfskonvoi für fast 80.000 Menschen in Orum al-Kubra westlich von Aleppo beschossen. Dabei verloren mindestens 20 Menschen ihr Leben, auch ein Mitarbeiter des syrischen Roten Halbmonds. Helfer sind zu Opfern geworden. Schon wieder.
In Syrien offenbart sich zusehends eine Abkehr von einer der größten zivilisatorischen Errungenschaften, die die Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hervorgebracht hat - den Rechten von Ärzten, humanitären Helfen und Notbedürftigen. Diese Abkehr betrifft auch, aber nicht nur das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einigten sich 16 Staaten auf ein Abkommen "zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde " – die Genfer Konvention. Nach den schrecklichen Erfahrungen der beiden Weltkriege wurde das Abkommen immer weiter den Erfordernissen der modernen Kriegsführung angepasst. Mittlerweile haben 196 Staaten die Regeln ratifiziert, die ein Mindestmaß an Humanität auch in Zeiten des Todes, des Krieges, der Barbarei garantieren sollen.
Die Welt einigte sich darauf, auch im Krieg Zivilisten unbedingt zu schonen. Sie einigte sich darauf, dass Verwundete, egal welcher Kriegspartei sie angehören, einen Anspruch auf medizinische Versorgung haben. Sie entschied, dass Ärzte und Nothelfer als politisch neutral betrachtet werden müssen und entsprechend keine militärischen Ziele sein dürfen. Sie sollen möglichst ungehindert ihren Aufgaben nachgehen können.
"Krankenhäuser dürfen nicht zur Zielscheibe werden"
Der Angriff von Montag ist aber nur einer in einer langen Serie. Wer etwa die Webseite von "Ärzte ohne Grenzen" besucht, sieht zu allererst einen fett hervorgehobenen Mahnruf. "94 Angriffe trafen im vergangenen Jahr von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Krankenhäuser - allein in Syrien", heißt es dort. "Wir fordern: Krankenhäuser dürfen nicht zur Zielscheibe werden!" Auch etliche andere Hilfsorganisationen berichten von derartigen Vorfällen. Die meisten haben ihre Arbeit in Syrien längst eingestellt.
Für den Angriff vom Montag machen die USA das syrische Regime und Russland verantwortlich. "Die Russen haben die Verantwortung, selbst solche Aktionen zu unterlassen, aber sie haben auch die Verantwortung, das Regime davon abzuhalten", sagte ein hochrangige Vertreter des US-Außenministeriums laut der Nachrichtenagentur AFP.
Zwar ist das syrische Regime besonders konsequent und grausam, wenn es um Angriffe auf Helfer geht. Aktivisten berichten, dass das Regime in der Regel zwei Angriffswellen fliegt – eine, um Menschen zu treffen, die das Regime als Terroristen einstuft (alle Regimegegner), und die zweite, um jene zu erwischen, die den "Terroristen" helfen, indem sie Verletzte versorgen.
Russland ließ diese Angriffe mindestens zu. Assad ist auf den Rückhalt Moskaus angewiesen und dürfte sich kaum widersetzen, wenn der Kreml eine striktere Einhaltung der Genfer Konventionen fordern würde.
Doch allein Damaskus und Moskau verantwortlich zu machen, wäre eine allzu einfache Antwort. Einem Bericht des "Spiegels" zufolge beteiligen sich derzeit vier von fünf ständigen Mitgliedern im Uno-Sicherheitsrat an Koalitionen, die Krankenhäuser in Syrien, Jemen und Afghanistan bombardiert haben.
Ärzte werden instrumentalisiert
Insbesondere bei den USA war im vergangenen Jahrzehnt eine Erosion des Prinzips des Schutzes von Hilfsbedürftigen und ihren Helfern zu beobachten. Seit der "Krieg gegen den Terror" tobt, kam es immer wieder zu den oft kolportierten "Kollateralschäden". Insbesondere bei Drohnenangriffen wurden auch in den Zeiten nach der Bush-Ära Hunderte Zivilisten getötet. 2015 sorgte der US-Angriff auf ein Krankenhaus in Kundus für weltweites Aufsehen. Mindestens neun Helfer starben dabei. Angaben aus Washington zufolge war dies die "direkte Folge menschlichen Versagens" bei der Zielauswahl.
Obwohl die Regierung von Präsident Barack Obama die Einsatzregeln für Drohnen- und Luftangriffe verschärft, wirkt die Fähigkeit der Amerikaner, derartige Vorfälle zu tolerieren, besorgniserregend. Es gibt noch immer viele "Kollateralschäden". Und viele Republikaner nehmen Obamas Reformen als Fehler wahr. Sie pochen auf die ihrer Meinung nach notwendige höhere Effektivität eines Militärs, das wenig Rücksicht nehmen muss.
Quelle: ntv.de