Gesteuerter Wahlgang in Belarus Lukaschenkos "Spezialoperation" lässt Menschen keine Wahl
24.02.2024, 12:11 Uhr Artikel anhören
Mehr als 1500 politische Gefangene in Belarus: Im Mai letzten Jahres erinnerte eine Demonstration in Krakau an deren Schicksal.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Das Lukaschenko-Regime lässt am Sonntag ein neues Parlament wählen. Die Abstimmung ist selbst für Belarus von beispielloser Repression geprägt, das Ergebnis steht schon weitgehend fest. Der Diktator ist getrieben von seinem Beinahe-Sturz im Jahr 2020 - und feilt an seiner Machtverlängerung.
Das Jahr 2024 schickt sich an, das größte Wahljahr in der Geschichte der Menschheit zu werden. Fast die Hälfte aller Erdenbewohner ist zu Urnengängen aufgerufen - doch Demokratieforscher weisen darauf hin, dass absehbar nur etwa vierzig Prozent dieser Wahlen frei und fair verlaufen werden. Die Diktatoren der Welt gestehen immerhin auf dem Papier ein, dass die Herrschaft eigentlich vom Volke ausgehen sollte, während hinter den Kulissen die Ergebnisse längst feststehen. Nichts anderes ist zu erwarten von den sogenannten "Wahlen" zum Nationalparlament und Lokalräten in der Republik Belarus am Sonntag. Nachdem Alexander Lukaschenko durch die friedlichen Massenproteste nach der dreist gefälschten Präsidentschaftswahl im Spätsommer 2020 knapp am Rande seiner Entmachtung vorbeigeschlittert war, will er dieses Mal nichts anbrennen lassen.
Mithilfe seiner Sicherheitskräfte hat er in den vergangenen Jahren seinen umfassenden Repressionsapparat massiv ausgebaut - mit Methoden, die laut Vereinten Nationen auf "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" hindeuten. Menschenrechtler zählen aktuell knapp 1.500 politische Gefangene, von denen die meisten folterähnlichen Haftbedingungen ausgesetzt sind. Ihre Dunkelziffer schätzen Experten sogar auf das Dreifache. Der Tod Nawalnys in Russland sorgte zu Recht weltweit für Empörung. In Belarus starb wenige Tage später mit Ihar Lednik bereits der fünfte politische Gefangene - und damit der zweite allein im noch so jungen Jahr 2024.
Auch in der politischen Landschaft hat der Diktator tabula rasa gemacht. Zum ersten Mal in der Geschichte wird nicht ein einziger Oppositionskandidat auf dem Wahlzettel zu finden sein. Die verbliebenen demokratischen Parteien wurden liquidiert und das Parteiensystem nach russischem Vorbild umgebaut - eine große Systempartei namens "Belaya Rus" wird die meisten Stimmen erhalten. Daneben sorgen drei loyale Kleinparteien für eine Prise pluralistischer Fassade. Viel zu melden haben alle vier nicht. Sämtliche Kandidatenlisten wurden durch die Sicherheitsdienste überprüft und letztlich im Präsidialamt freigegeben.
Zwar treten offiziell auf 110 Parlamentsmandate 265 Kandidaten an. Doch drohen auch hier kaum Überraschungen. Die unabhängige Zeitung "Nascha Niwa" hat bereits eine Liste erstellt, welche "Volksvertreter" absehbar im Parlament sitzen. Bei früheren "Wahlen" lag sie mit ihren Prognosen zu 96 Prozent richtig. Nachdem 2020 einige der mit der Stimmauszählung befassten Wahlkommissionen die tatsächlichen, für Lukaschenko fatalen Ergebnisse präsentiert hatten, sind diese Gremien diesmal ausschließlich mit anonym arbeitenden Loyalisten besetzt. Unabhängige Wahlbeobachter der OSZE sind nicht zugelassen.
Posten verteilen, Präsidentenwahl vorbereiten
Für den angeschlagenen Langzeitherrscher hat dieser "einheitliche Wahltag" vor allem zwei Funktionen. Zum einen kann er verdiente Mitstreiter durch neue Posten belohnen und andere in geordneter Weise innerhalb des Systems "verschieben". Zum anderen ist der Vorgang ein Testlauf für die nächste Präsidentschaftswahl 2025. Denn selbst eng gesteuert bedeutet so ein Vorgang doch einen gewissen Moment von Unruhe im System. Deshalb soll der kommende Sonntag beweisen, dass die Räder des Repressionsapparats ineinandergreifen, die Reihen des Regimes von Abweichlern gesäubert sind und im System keine "Fehler" passieren wie vor vier Jahren.
Die demokratischen Kräfte im Exil um Svetlana Tichanowskaja lehnen daher strikt ab, überhaupt von einer "Wahl" zu sprechen. Einige reden sogar explizit von einer politischen "Spezialoperation" des Regimes. Ihrer Logik nach kann ein illegitimer Machthaber keinen legitimen Wahlprozess mehr durchführen und das gesamte Prozedere entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Sie fordern die Menschen in Belarus auf, die Wahl, die keine ist, entweder ganz zu boykottieren oder "gegen alle" zu stimmen - eine Möglichkeit, die der Wahlzettel vorsieht. Anders als 2020 ist eine alternative Stimmauszählung jedoch unmöglich. Die Kabinen haben keine Vorhänge und Fotografieren der Stimmzettel ist streng verboten.
Für die Propaganda erhofft sich das Regime Bilder eines geordneten Ablaufs, wenn nicht gar eines "patriotischen Feiertags". Zwar wird Lukaschenko der Welt und sich selbst weismachen wollen, dass er als alternativloser "Landesvater" wieder fest im Sattel sitzt. Doch das Jahr 2020 liegt als Trauma über ihm. Wie sehr er sich vor seinem eigenen Volk fürchtet, zeigt sich daran, dass nicht nur ein Großaufgebot der Polizei seinen "Wahltag" absichern soll, sondern auch Armeeeinheiten und selbst Teile der Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt werden.
Das Land Putin ausgeliefert
Seine Legitimität versucht er dieser Tage daher vor allem auf dem Argument aufzubauen, dass er Belarus in geschickter Weise aus dem Krieg in der Ukraine herausgehalten habe. De facto ist es zwar umgekehrt - sein Festklammern an der Macht, die Zerschlagung der belarussischen Zivilgesellschaft und der Konfrontationskurs mit dem Westen legen die Axt an die Widerstandskräfte des Landes und haben Belarus in eine nie dagewesene Abhängigkeit von Putin geführt.
Der wiederum bekam bislang von Lukaschenko im Krieg sämtliche eingeforderte Unterstützung von Logistik über Munition und Infrastruktur bis Ausbildung oder propagandistischer Rückendeckung. In den Augen der Welt gilt Belarus als Ko-Aggressor des Kreml, der mit wilder Rhetorik, Wagner-Truppen oder Atomwaffenstationierung die EU-Nachbarn bedroht. Dass die belarussische Armee bislang nicht ins Feld geführt wurde, kann wiederum daran liegen, dass sie keine große Kampfkraft aufzubieten hat und Umfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Belarus einen direkten Kriegseintritt kategorisch ablehnt. Kämen aus der Ukraine Hunderte von Särgen nach Belarus zurück, könnte dies zu neuen "Unruhen" führen, was nicht nur der Machthaber in Minsk unbedingt vermeiden will. Auch Putin kommt die "Stabilität" - lies politische Grabesruhe - bei seinem einzigen Verbündeten in Europa momentan entgegen.
Denn aus seiner Sicht "liefert" Lukaschenko: Die belarussische Wirtschaft wird immer umfassender auf Russland umorientiert und leistet aktive Hilfe bei der Umgehung westlicher Sanktionen. Im Kultur- und Bildungsbereich schreitet eine massive Russifizierung voran. Auch im Parlament dürfte der Anteil prorussischer "Abgeordneter" nach den Wahlen wachsen. Spannend wird daher vor allem, wie es mittelfristig weitergeht. Noch im Herbst 2020 soll Lukaschenko, den Abgrund vor Augen, Putin im Gegenzug für dessen Unterstützung versprochen haben, bei der Präsidentenwahl 2025 nicht mehr anzutreten. Ob er sich daran halten wird, steht in den Sternen.
Doch auch ein Plan B ist bereits in Vorbereitung. Im späteren Frühjahr soll erstmals die "Allbelarussische Volksversammlung" in neuer Konstellation zusammentreten. Dieses neue Superorgan schwebt seit einer Verfassungsänderung vor zwei Jahren im System über allem und hat auch die Macht, Präsidentschaftswahlen zu annullieren. Es bestehen wenige Zweifel daran, dass sich Lukaschenko zu dessen Vorsitzenden "wählen" lassen wird. Dies könnte ihm erlauben, 2025 jemand anderen ins abgeschwächte Präsidentenamt zu setzen und dennoch aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen. Er selbst hält sich die Optionen offen. Die Menschen in Belarus hingegen haben keine Wahl.
Jakob Wöllenstein leitet das Auslandsbüro Belarus der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Vilnius
Quelle: ntv.de