
Das "Wir sind das Volk"-Volk zeigte Merkel die rote Karte, war aber eindeutig in der Minderheit.
(Foto: AP)
Ausgerechnet in einer Hochburg der AfD veranstaltet die Berliner CDU ihren Wahlkampfabschluss. Die Kanzlerin wird mit "Merkel muss weg!"-Rufen begrüßt. Doch die CDU ist vorbereitet.
Wenn Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang der 1990er Jahre auf Wahlkampfveranstaltungen in westdeutschen Universitätsstädten auftrat, wurde er meist ausgepfiffen. Aus seiner Sicht waren das linke Krawallmacher. "Keine Sorge", sagte er bei mindestens einer Gelegenheit an das normale Publikum gewandt, "das werden später mal anständige Bürger und CDU-Wähler."
Linke Krawallmacher kennt Angela Merkel von ihren Auftritten bei Wahlkampfveranstaltungen auch. Vergleichsweise neu ist das Phänomen der rechten Störer. Doch die Berliner CDU hat vorgesorgt. Vor ihrer Wahlkampfabschluss-Kundgebung zeigt ein Christdemokrat kichernd auf die Lautsprecherboxen, die links und rechts neben der Bühne hängen. "Dagegen kommt keine Trillerpfeife an", sagt er zu seinem Begleiter.
SPD: 22 Prozent (28,3)
CDU: 18 Prozent (23,3)
Grüne: 18 Prozent (17,6)
Linke: 14 Prozent (11,7)
AfD: 14 Prozent (--)
FDP: 6 Prozent (1,8)
Quelle: Insa für "Cicero", 12.09.2016, in Klammern die Ergebnisse der Abgeordnetenhauswahl von 2011.
Noch ist Merkel nicht da, noch ist es ruhig. Landes- und Lokalpolitiker bestreiten das Vorprogramm. "Rot-Rot-Grün wird Rückschritt bedeuten und Unsicherheit", sagt Florian Graf, CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Sein Versprecher - "wird" statt "würde" - klingt fast, als richte sich die Union schon darauf ein, demnächst nicht mehr mitzuregieren.
Doch so ist es keineswegs. Auf der Bühne werden Optimismus und gute Laune verbreitet. Angesichts der Umfragewerte (siehe Infokasten) ist das überraschend und wirkt dennoch überzeugend. Gleich mehrere CDU-Anhänger haben selbstgemachte Schilder mitgebracht, auf denen "Wir schaffen das" steht. Die Atmosphäre ist entspannt.
Die Wut der Protestler spornt die CDU-Anhänger an
Das ändert sich, als Merkel die Bühne betritt. Schlagartig skandieren einige Leute das Mantra der AfD: "Merkel muss weg!" und auch "Lügenpack". Ein paar halten gelbe Pappschilder hoch, die zusammen den Spruch "Mutti gib den Führerschein ab" ergeben. Insgesamt dürften zwanzig bis dreißig AfD-Aktivisten oder -Sympathisanten gekommen sein.
Sie scheinen das CDU-Publikum eher anzuspornen. Frank Henkel, Berliner Innensenator und CDU-Spitzenkandidat, erhält sogar Applaus, als er über das Wetter spricht. Die Krakeeler seien ein Vorgeschmack, was passieren würde, "wenn wir Berlin dem linken oder rechten Pöbel überlassen". An die Kanzlerin gewandt sagt er fast trotzig: "Ich bin froh, dass Sie heute zu uns gekommen sind, um uns zu unterstützen."
Dabei sieht es ein bisschen so aus, als verstecke die CDU ihre Kanzlerin. Dies ist die einzige öffentliche Kundgebung, auf der sie auftritt. Zudem hat sich die Union für ihren Wahlkampfabschluss keinen Platz im Zentrum ausgesucht, sondern einen Ort, von dem aus man schneller in Brandenburg ist als am Kanzleramt - einen Platz in Lichterfelde, der allerdings den Vorteil hat, nicht übergroß zu sein. Nach CDU-Angaben sind 2500 Menschen gekommen. Der Platz ist voll.
Lichterfelde liegt in Steglitz-Zehlendorf, im Süden des einstigen Westberlin. Es ist der Bezirk mit den meisten Rentnern, der niedrigsten Arbeitslosenquote und den wenigsten Rauchern. Bei der Abgeordnetenhauswahl vor fünf Jahren holte die CDU hier mehr als 36 Prozent, ihr zweitbestes Ergebnis - insgesamt erreichte die Union damals 23,3 Prozent, was sogar noch als achtbares Ergebnis galt. Im Kommunalparlament bilden CDU und Grüne schon seit zehn Jahren eine Zählgemeinschaft, eine Art Koalition auf bezirklicher Ebene.
Eine Botschaft, die Merkel freut
Kurzum: Auf den ersten Blick wirkt Steglitz-Zehlendorf wie das Traumland der Merkel-CDU, und es ist auch der mitgliederstärkste Bezirk der Berliner CDU. Aber es ist auch der Bezirk mit den meisten AfD-Mitgliedern - ein Beleg dafür, dass die AfD nicht nur von sozial Schwachen und Abgehängten gewählt wird. Uwe Köhne, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bezirksparlament, erklärt die Stärke der AfD mit der Stärke der CDU: Wenn die AfD auch aus rechtskonservativen CDU-Mitgliedern bestehe, sei es doch logisch, dass sie in einem Bezirk besonders groß sei, in dem auch die CDU groß ist. "Dies ist kein rechter Bezirk", betont er.
Man kann Merkels Auftritt hier unterschiedlich interpretieren. Einerseits zieht Merkel sich in eine CDU-Hochburg zurück. Gleichzeitig wagt sie sich in die Höhle des Löwen. Ein CDU-Mitglied sagt, er habe gehört, dass die AfD berlinweit für diese Veranstaltung mobilisiert habe. Falls die Kanzlerin von deren Gebrüll irritiert ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Irgendwann entdeckt sie in der Menge ein Schild, auf dem "Ich liebe Frau Merkel" steht, wobei das Wort "liebe" von drei Herzen dargestellt wird. "Danke für Ihre Hilfe", steht auch auf dem Schild. Der Mann, der es hält, könnte ein syrischer Flüchtling sein. Es ist offensichtlich, dass Merkel sich über seine Botschaft freut.
Henkel teilt derweil gegen die SPD, gegen Rot-Rot-Grün und gegen die AfD aus. Er kämpfe gegen die AfD, "weil sie alles verrät, was Deutschland stark gemacht hat", schimpft er. Sie hetze gegen "unsere deutsche Nationalmannschaft" und dulde Rassisten an ihrer Spitze. "Pfui Deibel, kann ich nur sagen."
Danach ist Merkel dran. Sie hält eine klassische Wahlkampfrede mit Sätzen wie diesem: Im Berliner Senat müssten Leute sitzen, die nicht nur daran denken, wie man heute das Geld ausgeben könne, sondern auch daran, wie man es morgen verdiene. Über ihre Flüchtlingspolitik sagt sie, was sie immer sagt: Die Zahl der Flüchtlinge werde gesenkt, den Schleppern das Handwerk gelegt, die Fluchtursachen müssten stärker bekämpft werden. Da sie annehme, dass auch Flüchtlinge aus Syrien auf dem Platz seien, wolle sie auch dies noch sagen: "Wir arbeiten mit aller Kraft daran, dass der Waffenstillstand hält, ganz besonders in dieser geschundenen Stadt Aleppo." Auf Henkels Forderung nach einem Burka-Verbot geht sie nicht ein, sagt aber, dass das Grundgesetz jeden zur Toleranz verpflichte - sie meint an dieser Stelle Flüchtlinge und Migranten, nicht die AfD. Man merkt es daran, dass sie hinzufügt, dass in Deutschland deutsch gesprochen werden müsse.
"Merkel, tritt endlich zurück!", schreit ein einsamer Rufer
Im Publikum steht Eberhard Diepgen, der bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin war. Er ist Ehrenvorsitzender der Berliner CDU, aber auf die Bühne geht er nicht. Seine Anwesenheit erinnert an bessere Zeiten - und an den Absturz. Mit Diepgen fuhr die Union in Berlin Ergebnisse um die 40 Prozent ein. Dann folgte der Bankenskandal, zu dessen Hauptverantwortlichen einflussreiche CDU-Politiker gehörten. Die Folge waren Milliardenverluste für das Land Berlin - und für die CDU ein drastischer, dauerhafter Einbruch in der Gunst der Wähler, gefolgt von jahrelangen Grabenkämpfen.
Erst mit Frank Henkel kam Ruhe in den Landesverband. Seit 2011 regiert die CDU wieder mit, noch vor zwei Jahren konnte sie sich der Hoffnung hingeben, in einem schwarz-grünen Bündnis den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Mittlerweile ist klar, dass daraus nichts wird, die beste Hoffnung der CDU ist, dass sie Juniorpartner der SPD bleibt. Wahrscheinlich ist das nicht, die Sozialdemokraten haben deutlich gemacht, dass sie Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün vorziehen. Den letzten Umfragen zufolge muss die CDU fürchten, unter 20 Prozent zu landen. Das ist nicht nur deutlich schlechter als bei der Wahl vor fünf Jahren, sondern auch weit entfernt von den 30 Prozent, die die Union im Mai 2014 in einer Umfrage erreicht hatte - vor der Flüchtlingskrise.
Allem Optimismus zum Trotz dürfte Merkel ahnen, dass sie spätestens am kommenden Montag schon wieder die Verantwortung für eine Wahlniederlage wird übernehmen müssen. Sie beendet ihre Rede mit einer Beschwörung. "Die Welt schaut auf Berlin, die Welt kennt die Geschichte Berlins, und die Welt weiß, wie sich diese Geschichte zum Guten gewendet hat". Was sie damit sagen will, ist nicht ganz klar.
Ein Mann, der allein steht, kreischt immer wieder: "Merkel muss weg! Rücktritt jetzt! Merkel, tritt endlich zurück!" Er ist zu alt, um "später mal" ein anständiger Bürger zu werden. Als linke Studenten ihn Anfang der 1990er Jahre auspfiffen, war Helmut Kohl in seiner dritten Amtszeit. Abgewählt wurde er erst nach der vierten. So gesehen muss Merkel sich keine Sorgen machen.
Quelle: ntv.de