Winterprognose offenbar hinfällig Minister warnt vor neuer Massenflucht
26.11.2015, 09:51 Uhr
Noch immer erreichen täglich Tausende Flüchtlinge Deutschland. Und das wird so bleiben, mahnt Entwicklungsminister Müller, der sogar einen neuen Andrang im Winter erwartet. Grund: die katastrophale Lage in den Lagern rund um Syrien.
Angesichts katastrophaler Zustände in den meisten Flüchtlingslagern rund um Syrien erwartet Bundesentwicklungsminister Gerd Müller entgegen bisheriger Prognosen steigende Flüchtlingszahlen im nahenden Winter. "Die Lage ist dramatisch", beschrieb der CSU-Politiker in der "Augsburger Allgemeinen" die Situation in den Flüchtlingslagern im Nordirak und anderen Nachbarländern Syriens. "Es gibt keine Winterzelte, stattdessen leben die Menschen in Nässe und im Dreck", sagte Müller weiter. "Es droht der Ausbruch der Cholera."
Bisher war erwartet worden, dass angesichts des bevorstehenden Winters die Flüchtlingszahlen einbrechen würden. So waren nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) am vergangenen Sonntag auf den griechischen Inseln lediglich 155 neue Flüchtlinge angekommen. Am Tag zuvor waren es noch knapp 3000 Menschen gewesen. Als Hauptgrund für den abrupten Rückgang gilt das schlechte Wetter.
EU-Sofortprogramm könnte helfen
"Es ist beschämend und unmenschlich, dass die Weltgemeinschaft noch immer nicht konsequent und entschlossen auf die Situation in den Flüchtlingslagern der Krisenregion reagiert und damit Möglichkeiten schafft, dass die Menschen vor Ort anständig überleben können", sagte Müller der Zeitung. So würden dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen drei Milliarden Euro fehlen, die von den internationalen Geberländern im Laufe des Jahres zwar fest zugesagt wurden, aber nicht tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Die UNO-Organisationen könnten inzwischen Hunderttausende Menschen überhaupt nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgen, so Müller. Anderen würden die Rationen gekürzt. "Auch das ist beschämend und unmenschlich."
Es gebe keine Winterzelte, berichtet Müller. Stattdessen würden die Menschen in Nässe und im Dreck leben. Es drohe der Ausbruch der Cholera. Es gebe zu wenige Schulen in den Camps, keine Ausbildungsmöglichkeiten, keine Lebensperspektiven. "Die internationalen Hilfsorganisationen müssen jedes Jahr wieder bitten und betteln, damit sie von den Ländern Geld für die Flüchtlingshilfe bekommen. Das müssen wir ändern."
Flucht aus den Camps
Der Großteil der Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Deutschland machen, würde gar nicht aus dem Kriegsgebiet kommen, so Müller. Sie kämen aus den Flüchtlingscamps im Nordirak oder aus "Ziegenställen in Jordanien, in denen sie Unterschlupf gefunden haben. Zwei, drei oder vier Jahre haben sie dort jetzt gelebt, ohne Wasser, ohne Toilette. Es ist verständlich, dass sie diese Hoffnungslosigkeit verlassen wollen."
Deutschland wird jährlich rund 15 Milliarden Euro für die Bewältigung der Flüchtlingskrise im eigenen Land aufwenden müssen. Laut Müller könnte man vor Ort aber mit zehn Milliarden Euro "die ganze Lage stabilisieren". "Und zehn Milliarden Euro kann Europa, deren Länder ein Vielfaches in die Militärausgaben stecken, nun wirklich aufbringen." So könne man verhindern, dass sich die Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. "Doch das muss jetzt schnell gehen – sonst laufen alle davon in Richtung Europa. Oder es verlieren viele Tausende ihr Leben."
Volles Verständnis für Seehofer
Müller stützte in dem Interview die Forderungen aus Bayern nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. "Ich habe in der Sache für den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer volles Verständnis, denn die Lage an der Grenze des Freistaates zu Österreich ist sicherlich die schwierigste in Deutschland." Täglich würden 6000 bis 10.000 Menschen hier ankommen. Die Strukturen in Deutschland seien vollkommen überlastet. Die Ehrenamtlichen, die seit Monaten ununterbrochen helfen und Herausragendes leisten würden, hätten vielerorts ihre Grenzen erreicht. "Da höre ich viele Hilferufe."
Der CSU-Politiker Müller fordert einen europäischen Krisenkoordinator, einen eigenen Flüchtlings-Kommissar. "Außerdem brauchen wir ein europäisches Flüchtlingshilfswerk mit eigenem Etat und zivilen Einsatzkräften, um im Krisenfall handlungsfähig zu sein."
Bald kommen die Klimaflüchtlinge
Der Minister geht davon aus, dass es bald noch mehr Flüchtlinge gibt, und zwar aus einem anderen Grund, nämlich der Klimakatastrophe. "Mit El Niño kümmert sich die nächste Katastrophe an", sagte Müller der "Augsburger Zeitung".
Derzeit würden die meisten der 60 Millionen Flüchtlinge weltweit aus Entwicklungsländern kommen. "Und es werden immer mehr. Das ist absehbar."
Quelle: ntv.de, ppo