Söder prescht in Bayern vor Muss Deutschland jetzt über Öffnungen reden?
07.02.2022, 19:58 Uhr
Nach Markus Söders Willen reicht in Bayern bald auch wieder ein negativer Test, um sich frisieren zu lassen.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Bayern hat Rekordinzidenzen und Ministerpräsident Söder will Lockerungen beschließen. Ist das Wahnsinn oder Weitsicht? Die Politik ist uneins zwischen Forderungen nach Öffnung und Warnungen, auch nur darüber zu reden. Aus der Medizin kommt jedoch eine klare Botschaft.
Auf 1426 ist die Sieben-Tage-Inzidenz geklettert, die Landkreise und Stadtbezirke ordnen sich auf einer immer breiteren Skala ein zwischen dem ostwestfälischen Herford mit Inzidenz 258 und den 4083 von Fürstenfeldbruck. Jener Landkreis mit dem deutschen Negativ-Rekord liegt in Bayern, und ausgerechnet Markus Söder prescht heute vor, mit konkreten Plänen für Lockerungen.
Bayerns Regierungschef möchte schon morgen im Kabinett beschließen lassen, dass bei Friseuren und anderen körpernahen Dienstleistern zukünftig statt 2G wieder 3G gilt, man also auch ohne Impfung, aber mit negativem Test den Service in Anspruch nehmen kann. Die Obergrenzen für Sport- und Kulturveranstaltungen will er erhöhen und die Sperrstunde für die Gastronomie aufheben. All das, obwohl sein Bundesland hinter Hamburg aktuell die zweithöchste Inzidenz aufweist. Ist das Wahnsinn oder Weitsicht?
Zumindest beweist Söder mit seinen Lockerungsplänen ein sicheres Gespür für den Trend in Deutschland. Wünschte sich eine Mehrheit über Wochen strengere Maßnahmen bis hin zum Lockdown, als die Ampel diesen verweigerte, kehrt sich das derzeit zunehmend um: Knapp die Hälfte der Deutschen spricht sich mittlerweile für Lockerungen aus. Laut einer Insa-Umfrage für "Bild am Sonntag" sind 49 Prozent für Öffnungsschritte und 44 Prozent dagegen.
Zwischen diesen beiden Polen versuchen sich die politischen Akteure zu verorten. Die FDP plädiert nicht nur in Gestalt von Parteichef Christian Lindner für die Abschaffung von 2G im Einzelhandel - eine Einschränkung, die in Bayern und auch Niedersachsen ohnehin schon vor längerer Zeit gerichtlich gekippt wurde und die auch der Einzelhandelsverband seit Wochen fordert.
Neben dem Argument, dass der Einkauf mit Maske nach bisherigen Erkenntnissen infektionstechnisch nicht sehr riskant ist, ist die FDP auch durch Teile ihrer Anhängerschaft unter Zugzwang. Denn während die Liberalen als Oppositionspartei den Corona-Kurs der Vorgängerregierung oft als zu hart kritisierten, tragen sie - nun in Verantwortung - den derzeitigen Kurs weitgehend mit, was ihnen in den sozialen Medien teils herbe Kritik einbringt.
Regierung sieht keinen Anlass für Lockerungsfahrplan
Die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge warnt hingegen, "solange die Infektionszahlen steigen und die Impfquote weiter zu niedrig ist, sind Signale zu lockern verfrüht". Wenn man jetzt schon laut darüber rede, sagte sie dem "Kölner Stadtanzeiger", "denken viele, wir seien über den Berg". Bund und Länder wollen am 16. Februar über die weitere Corona-Politik beraten. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, dämpfte noch in der vergangenen Woche die Hoffnung auf baldige Lockerungen. Er sehe keinen Anlass, für die nächste Bund-Länder-Beratung einen Lockerungsfahrplan aufzustellen.
Doch die Stimmung in der Öffentlichkeit gänzlich zu ignorieren, birgt ein Risiko. Gerade in der jetzigen Lage mit Infektionszahlen, die jegliche Nachverfolgung per Amt unmöglich machen, ist entscheidend, dass Bürgerinnen und Bürger aus Überzeugung weiter mitmachen - sich und andere durch Masken und Abstand schützen, sich im Falle einer Infektion isolieren und Kontakte informieren. Um sich im zweiten Pandemiewinter, der bislang nicht die Todeszahlen aufweist wie jener vor einem Jahr, weiter diszipliniert zu verhalten, braucht die Bevölkerung einen langen Atem. Da könnte eine Öffnungsperspektive hilfreich sein.
Die hohe Bundes-Inzidenz deutet an, dass für Deutschland zumindest in Maßen auch gilt, was Länder wie Großbritannien, Dänemark oder Spanien für sich schon früher festgestellt haben: dass die Zahl der Infektionen nicht mehr direkt an die Belastung der Krankenhäuser gekoppelt ist. Im Gesundheitssystem ist die Lage derzeit deutlich weniger angespannt, als zu den Hochzeiten der Delta-Welle. Das nutzt Söder als zentrales Argument für seinen forschen Schritt. "Wir haben nur ein Drittel der Belegung der Intensivbetten, wie wir vergleichbar bei der vierten Welle von Delta hatten", sagte er im ZDF.
Nicht nur das Virus hat sich verändert
Doch suggeriert der Ministerpräsident mit dem Argument eine Vergleichbarkeit, die schwer belegbar ist. Denn zum einen bedeuten 100 Delta-Infizierte für das Gesundheitssystem nicht dasselbe wie 100 Omikron-Infizierte. Die Zahl der schweren Verläufe ist bei Omikron deutlich geringer, die Zahl der weiteren Ansteckungen ist bei Omikron deutlich höher. Beide Parameter sind so zentral für den Pandemieverlauf, dass ein direkter Vergleich zwischen Delta und Omikron inzwischen kaum noch möglich erscheint.
Zum anderen hat sich nicht nur das Virus in den letzten Monaten verändert, sondern auch der Immunisierungsgrad der Deutschen. Ein Risikopatient, der ohne jeden Impfschutz vor einem Jahr sehr schnell in eine bedrohliche Situation gekommen wäre, bietet nun, dreimal geimpft, dem Virus in den meisten Fällen besser die Stirn. Und die Zeitspanne zwischen Infektion, Krankenhauseinlieferung und Verlegung auf die Intensivstation könnte sich bei geimpften Risikopatienten entsprechend erhöhen, sodass die derzeitige Belegung der Kliniken noch weniger mit dem derzeitigen Infektionsgeschehen zu tun hätte, sondern sich auf die Situation vor sogar mehr als zwei Wochen bezieht.
Der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, wies Ende Januar auf einen deutlichen "Omikron-Effekt" auf den Intensivstationen hin. Zwar sei die Hospitalisierungsrate noch "akzeptabel", die hohen Inzidenzen zeigten sich aber vermehrt auch in den Kliniken, sagte er der dpa. Und während die Krankenhäuser bislang noch auf Augenhöhe mit den Anforderungen sind, haben die Testkapazitäten mit dem Ansturm nicht mithalten können. Inzidenz und Neuinfektionswert haben daher nur noch eingeschränkte Aussagekraft, da viele Infektionen mangels PCR-Test und bei schwachen Symptomen unterm Radar ablaufen.
Krankenhausgesellschaft will "glasklare Strategie"
Wie also könnte eine Strategie aussehen, die verantwortungsvoll ist, aber nicht übervorsichtig? Aus der Medizin kommen deutliche Hinweise. Eine Lockerung der Maßnahmen, während die Omikron-Kurve noch ansteigt, ist aus Sicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft keine kluge Entscheidung. Ob der noch ansteckendere Omikron-Subtyp oder sogar eine neue Variante die Lage erneut verändere, lässt sich nach Meinung ihres Vorsitzenden Gerald Gaß nicht seriös beantworten. Lockerungen könne es erst geben, "wenn der Scheitelpunkt der Omikron-Welle überschritten ist und deutlich wird, dass den Krankenhäusern keine Überlastung mehr droht", sagte er der "Rheinischen Post". Derzeit rechnen führende Mediziner in Deutschland mit dem Scheitelpunkt ab Mitte Februar.
Hingegen plädiert Gaß ausdrücklich dafür, über Lockerungen bereits jetzt zu sprechen, fordert gar "klare und verlässliche Öffnungsperspektiven". Es brauche eine "glasklare Strategie, die den Bürgern, der Wirtschaft, Kultur und Bildung auch eine Perspektive für die kommenden Monate aufzeigt", sagte Gaß und sprach sich dafür aus, diese Pläne bereits jetzt zu entwickeln - ohne festen Termin, sodass nicht die Gefahr besteht, dass eine Zusage wieder kassiert werden muss und für Enttäuschung sorgt.
Die Aufforderung aus der Medizin, bereits jetzt eine Strategie zu diskutieren, erscheint klug, schon allein vor dem Hintergrund, dass als erstes entschieden werden muss, was denn als Parameter für Lockerungsschritte herhalten soll. Die Inzidenz, die das Fallgeschehen nur ungenau wiedergibt? Das Intensivbettenbelegung, die jedoch nur die Belastung der Intensivstationen reflektiert? Die Hospitalisierungsrate, die jedoch nicht angibt, wie stark die Belastung der Kliniken ist? Schon allein über die Grundlage der Planung lässt sich kontrovers diskutieren. Damit kann man wohl gar nicht früh genug beginnen.
Quelle: ntv.de