Gewaltexzess in Syrien "Opposition hat keinen Kopf"
02.08.2011, 12:18 Uhr
Syriens Präsident Baschar al Assad geht mit Panzern gegen das eigene Volk vor.
(Foto: Reuters)
Die Situation in Syrien eskaliert immer weiter. Präsident Assad lässt auf Demonstranten schießen und greift diese mit Panzern an. Die Aufständischen kündigen für den beginnenden Fastenmonat Ramadan eine Ausweitung der Proteste an. Nahostexperte Ulrich Kienzle spricht im Interview mit n-tv.de über die Chancen des Aufstands und die Hilflosigkeit des Westens.
n-tv.de: Am Sonntag starben bei einem Angriff der syrischen Armee auf die Stadt Hama weit über 100 Menschen. Trotzdem haben die Aufständischen angekündigt, während des jetzt beginnenden Fastenmonats Ramadan täglich gegen das Regime protestieren zu wollen. Wie geht es jetzt weiter in Syrien und wie wird Assad reagieren?
Ulrich Kienzle: Das hat er ja gestern schon gezeigt: Assad wird mit seiner Methode, der "Methode Hama", mit Gewalt versuchen, diese Rebellion niederzuschlagen. Mit dieser Methode demonstrierte der Vater des heutigen Präsidenten, Hafis al Assad, bereits 1982 und ausgerechnet in Hama seine Macht, indem er auf brutalste Weise nicht regierungskonforme Rebellen niederschlug. Sein Sohn scheint diesem Beispiel nun folgen zu wollen, auch wenn die Zahl der Todesopfer von damals um ein Vielfaches höher war. Derzeit gibt es keinen Grund für Assad, kurzfristig einzulenken, denn außer Protesten passiert ja nichts. Und das bestärkt ihn natürlich darin, genau diese Methode weiter zu verfolgen. Generell glaube ich nicht, dass durch den Ramadan die große Wende kommen wird in Syrien. Das Problem ist doch, dass diese Opposition keinen Kopf und keine Strategie hat und dass wir sehr wenig darüber wissen, was dort wirklich passiert. Und das ist auch das Furchtbare: Dass man auf reine Spekulation angewiesen ist.
Was wissen wir denn?
Unser Problem hier im Westen ist ja immer wieder, dass wir die Dinge sehr falsch beurteilen. Nehmen Sie das Beispiel der Opposition in Libyen. Wir glauben, da gebe es eine Rebellenarmee. In Wirklichkeit sind das zwischen 30 und 40 unabhängige Milizen, die nur unter einem gemeinsamen Kommando kämpfen. Über diese einzelnen Gruppierungen und ihre jeweiligen Ziele wissen wir sehr wenig.
Was sind dann die Motive der syrischen Opposition? Wie setzt sie sich zusammen?
Diese Opposition hat kein Gesicht, oder zumindest keines, das wir kennen. Das ist vielleicht ein Vorteil, vielleicht aber auch ein großer Nachteil. Es ist nicht sicher, ob diese Opposition islamistisch ist oder ob es tatsächlich eine demokratische Bewegung gibt. Niemand kann sagen, welche Gruppe innerhalb der syrischen Opposition die stärkste ist. Im Bezug auf Hama bin ich mir aber relativ sicher, dass dort die Moslembrüder das Sagen haben, denn Hama war schon immer eine ihrer Hochburgen. Ob das tatsächlich so ist und wie diese Moslembrüder heute denken, wissen wir allerdings nicht.
Können Sie dennoch eine Einschätzung geben, welche Chance die Protestbewegung noch hat?
Man kann noch nicht einmal für Ägypten sagen, was am Schluss rauskommen wird, ob dort eine Demokratie entstehen wird. Das ist ein wildes politisches Amalgam aus etwa 40 politischen Parteien, die dort Machansprüche angemeldet haben, das ist momentan ein gewaltiges Chaos. Genauso wenig wissen wir, was in Syrien wirklich los ist. Natürlich gibt es dort Demokraten und vielleicht wollen inzwischen auch die Moslembrüder mehr Demokratie, aber wir wissen einfach nicht, was sie wirklich denken. Das ist das große Dilemma, das Assad und seiner brutalen Politik, keine Journalisten ins Land zu lassen, in letzter Konsequenz Recht gibt. Und an diesem Punkt bleibt uns leider nur, ehrlich zu sagen, dass wir nicht viel wissen.
Für wie stark halten Sie Assads Rückhalt in der Bevölkerung? Wie stark ist die Protestbewegung?
Der Rückhalt für Assad ist, glaube ich, nicht so schwach. Ich persönlich erwarte nicht, dass die Mehrheit im Land oppositionell ist, kann aber nicht beurteilen, wie stark die Bewegung tatsächlich ist. Da sie aber seit Monaten immer wieder aufflammt, muss sie eine gewisse Organisationsstruktur haben. Irgendjemand steckt da dahinter, im Zweifelsfall die Moslembrüder.
Assad nennt die Proteste eine "Verschwörung" und spricht von einem "Komplott, um die ganze Region zu zerschlagen" …
Das ist seit Jahrzehnten ein beliebtes Mittel in der arabischen Welt, um eigenes Versagen zu verdecken: Wann immer etwas schiefgeht, ist von Verschwörung die Rede. Dadurch wird verhindert, über die eigenen Schwächen und Probleme nachzudenken, geschweige denn, diese zuzugeben. Auch Gaddafi hatte bei den Protesten in Libyen zunächst von einer Al-Kaida-Verschwörung gesprochen, später war es dann eine Verschwörung der NATO. Diese Theorien tragen allenfalls dazu bei, das Militär zu motivieren, aber nach außen hin glaubt das niemand.
Auch wenn es in den letzten Monaten schon öfter zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen ist, scheint das Massaker von Hama noch einmal eine andere Qualität gehabt zu haben. Hat Assad seine Gangart gegenüber den Aufständischen verschärft?
Das große Symbol für die Auseinandersetzung zwischen Staat und Opposition in Syrien ist das Symbol Hama, das große Massaker von 1982, bei dem zwischen 20.000 und 30.000 Menschen ermordet wurden. Der Vater des heutigen Präsidenten, Hafis al-Assad, hat damals auf brutalste Weise Krieg gegen die Moslembrüder geführt. Sein Sohn Baschar hat bis zu dem Massaker nicht diese "Methode Hama" angewendet. Stattdessen hat er die weiche Welle versucht, hat verschiedene Demonstrationen mit mehreren Hunderttausend Menschen zugelassen. Der Einmarsch mit Panzern in Hama am Sonntag war Symbolpolitik. Die Rebellen haben das Regime zusätzlich provoziert, indem sie ebenfalls dem Beispiel von 1982 folgten: Genau wie damals erklärten sie Hama kurzerhand zur "befreiten Zone". Das hat Assad erzürnt. Was ich jetzt sage, ist zynisch: Es gab bisher etwa 2000 Tote. Das ist unmenschlich. Aber verglichen mit Hama 1982 ist das – auch wenn ich mich scheue, das zu sagen – relativ bescheiden.
Der NATO-Einsatz in Libyen wurde mit dem Schutz der Zivilbevölkerung begründet. Wie lange kann der Westen dem Treiben der syrischen Führung noch tatenlos zusehen und was erwarten Sie von der von Deutschland beantragten Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates?

Nahostexperte Ulrich Kienzle hatte bei einem Syrien-Besuch im letzten Jahr den "Eindruck eines stabilen Landes".
(Foto: picture alliance / dpa)
Das ist ein Nervenspiel. Von der Sondersitzung des Sicherheitsrates, insbesondere von China und Russland, erwarte ich nicht allzu viel. Natürlich wird das libysche Regime, wenn es so weitergeht, irgendwann zusammenbrechen, und zwar auch ohne weitere Raketenangriffe. Wann aber die Bürgerkriege zu Ende gehen, kann niemand sagen. Man muss sich von der naiven Vorstellung von Revolution verabschieden, dass ein paar Jungs in Turnschuhen da hingehen, in die Luft schießen und sagen "Wir machen jetzt Revolution". Denken Sie an die Französische Revolution: Frankreich war letztendlich erst 100 Jahre später auch faktisch eine Demokratie. Das Tolle an den Geschehnissen in der arabischen Welt ist dennoch, dass sie niemand für möglich gehalten hätte. Aber es war keine Revolution, eher eine Rebellion, ein gewaltiger kultureller Umbruch. Und das wird längere Wirkung haben.
Die EU hat sich am Montag auf weitere Sanktionen gegen Syrien verständigt. Wirtschaftssanktionen sind jedoch nicht dabei. Halten Sie das für sinnvoll?
Nein. Als Geste ist das in Ordnung, aber das kann Assad nicht beeindrucken.
Was soll der Westen, was sollen die Vereinten Nationen Ihrer Meinung nach tun? Hat die syrische Protestbewegung ohne den Westen überhaupt eine Chance?
Der Westen kann nichts machen, außer Sanktionen zu erlassen. Assads Methode entfaltet ihre Wirkung dergestalt, dass wir über Syrien derzeit nur sehr wenige Informationen haben. Der Westen ist nicht in der Lage, einen zweiten Krieg zu führen, und alles andere kann das syrische Regime überleben. Assads Planer wissen das genau.
Was passiert, wenn die Aufständischen dennoch siegen sollten?
Assad ist berechenbar, auch für den Westen. Keiner weiß, was kommt, wenn er stürzt. Eines ist aber klar: Ein Syrien nach Assad wird weniger laizistisch sein. Und das Beispiel des Irak zeigt, wie ein Land im Chaos versinken kann, wenn eine brutale, aber stabile Diktatur nach Jahrzehnten gestürzt wird.
Mit Ulrich Kienzle sprach Johannes Süßmann
Quelle: ntv.de