Politik

Hans-Joachim Maaz im Interview "Ostdeutsche sensibler bei Veränderungen"

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Maaz

(Foto: imago/Steffen Schellhorn)

Hans-Joachim Maaz gilt als der psychologisch fundierteste Kenner der Ostdeutschen. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung schaut er auf seine eigene Geschichte zurück und sieht Deutschland in einer Gesellschaftskrise.

ntv.de: Der Titel Ihres neuen Buches ist "Das gespaltene Land". Meinen Sie damit noch eine Trennung in Ost- und Westdeutschland?

Hans-Joachim Maaz: Ja, auch. Aus meiner Sicht ist das Land weiterhin oder auch erneut in West- und Ostdeutschland gespalten. Es gab ja diese Euphorie mit der Wende und der Hoffnung der DDR-Bürger, dass jetzt alles besser wird - mehr Demokratie, bessere Konsummöglichkeiten, Reisefreiheit. Aber das hat nicht so lange angehalten. Es gab dann doch eine spürbare Ernüchterung. Für viele Menschen sind diese Hoffnungen nicht aufgegangen. Aber für besonders wichtig halte ich, dass selbst Menschen, denen es deutlich besser ging, nicht zufriedener wurden. Sie leiden an den westlichen Lebenszwängen.

Was meinen Sie mit westlichen Lebenszwängen?

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Im Osten war man gut beraten, sich unterzuordnen, sich ins Kollektiv einzupassen, sich zurückzuhalten und nicht zu kritisch zu sein. Im Westen muss man laut sein, sich darstellen und verkaufen können. Das sind zwei sehr unterschiedliche Sozialisationen. Das ist der Grund, warum es diese Spannungen und ein Unverständnis zwischen Ost und West gab. Aber inzwischen erleben wir eine umfassendere gesellschaftliche Problematik, bei der die bisherige Konsum- und Wachstumsgesellschaft des Westens eine kritische Grenze erreicht hat. Das zeigt sich an der Finanz- oder Klimakrise oder an der Migrationsproblematik. In dieser Krise gibt es jetzt neue Gegensätze.

Welche Gegensätze sind das aus Ihrer Sicht?

Menschen müssen sich an gesellschaftliche Verhältnisse anpassen, auch gegen ihr eigenes Wollen und Vermögen. Das führt oft dazu, dass sie gestresst und unzufrieden sind oder sich entfremdet verhalten müssen. Die bisherigen gesellschaftlichen Erfolge wurden durch solche Anpassungen erreicht. Wenn für eine zunehmende Zahl von Menschen die soziale Sicherheit nicht mehr gegeben ist, der Wohlstand und die Konsummöglichkeiten, dann sind sie geängstigt und verunsichert. Dann werden die persönlichen Ängste wieder aktiviert, die durch Kompensierung befriedet waren. Das ist aus psychotherapeutischer Sicht der Grund für die Spaltung, nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch Alt und Jung, Mann und Frau, Stadt und Land, Migrationsfeinde und -freunde oder Coronamaßnahmenbefürworter und -gegner.

Wie definieren Sie an dieser Stelle Spaltung?

Spaltung ist eine Reduzierung des kritischen Nachdenkens. Es ist ein primitiver seelischer Abwehrmechanismus, bei dem es nur schwarz oder weiß gibt. Ich beobachte, dass diese Spaltungen immer feindseliger werden. Das ist für mich Ausdruck einer seelischen Abwehr. Man möchte einen Schuldigen finden. Dann wird der eigene Anteil an einem falschen Leben und der Notwendigkeit, sich verändern zu müssen, erträglicher.

Nehmen denn Ost- und Westdeutsche in dieser Gesellschaftskrise verschiedene Positionen ein?

Wenn wir davon ausgehen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, haben die Ostdeutschen damit Erfahrung. Sie wissen, wie es ist, wenn man sich anpassen muss und diese Anpassung plötzlich sinnlos wird. Das ist eine bittere und schmerzliche Erfahrung, aber auch eine, die hilft, bestimmte Dinge kritischer zu sehen. Und die haben die Westdeutschen nicht. Die Ostdeutschen sind aber mit dieser Erfahrung einfach sensibler und allergischer gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch politischer Heuchelei oder falschen medialen Darstellungen. Die Kritik, die aus dem Osten kommt, hat damit viel zu tun – dass man den Medien und Politikern nicht mehr traut. Das kennen Ostdeutsche. Deshalb ist die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen stärker als im Westen. Dass es Pegida gibt und eine höhere Zustimmung für die AfD, das erkläre ich mir damit. Das ist nicht vordergründig politisch gedacht, sondern als Gesellschaftskritik.

Sie sprechen von unvereinbaren Polen, einem Entweder Oder, die meisten Menschen sind aber eher im Sowohl-Als-Auch unterwegs.

Ich finde auch, dass ein gutes demokratisches Leben immer "Sowohl Als Auch" ist. Das ist die gesündere Variante, und das gibt es immer noch. Es haben eben immer beide Seiten Recht, es gibt nicht die eindeutige objektive Wahrheit. Es ist ja die Grundlage einer Demokratie, dass man Dinge so oder so sehen kann. Ich beobachte aber, dass das "Sowohl als Auch" zunehmend zu einem "Entweder Oder" wird. Das ist die Spaltung, der psychosozial primitive Abwehrvorgang oder die gestörtere Haltung. Damit nehmen die Feindseligkeiten in der Gesellschaft zu.

Wie kann man das ändern?

Was wir brauchen, ist, dass wir alle Positionen zu Wort kommen lassen und ein wirklich kritischer Disput möglich wird. Das wird immer weniger. Stattdessen wächst die Tendenz zu sagen, das sind die ganz Bösen, mit denen reden wir nicht. Wenn in einer Gesellschaft auffällige Außenseiter- und Extrempositionen entstehen, dann bringt Abwertung nichts. Das sind Symptomträger einer gesellschaftlichen Entwicklung. Da muss man sich fragen, warum es mehr Kriminelle, Extremisten oder Gewalttäter gibt.

Innerhalb der pluralistischen Meinungsbildung werden ja diese verschiedenen Positionen durchaus diskutiert. Wie kann man das Einander-Zuhören auch im therapeutischen Sinne besser ermöglichen?

Ich bin da anderer Meinung. Wenn sich heute jemand deutlich gegen Migration ausspricht, dann hat er es wesentlich schwerer, wird mehr kritisiert und abgewertet, als jemand, der für Migration ist. Es wäre wünschenswert, wenn es so wäre, dass alle Positionen diskutiert würden. Deshalb fürchte ich, dass sich die Verhältnisse zuspitzen, dass immer mehr Meinungen, die andere nicht hören wollen, ausgesperrt oder diffamiert werden.

Sie rufen dazu auf, das eigene Leben kritisch zu bewerten, statt vermeintlich Schuldige zu suchen. Was sehen Sie dabei für Defizite?

Ich glaube, bei der Betrachtung des Nationalsozialismus und der DDR kommt die individuelle Beteiligung zu kurz. Solche Systeme sind nicht nur denkbar durch eine auffällige, pathologische Elite, sondern nur durch ein stützendes Mitläufersystem. Ich verwende dafür den Begriff der Normopathie und meine, dass etwas Gestörtes für normal gehalten wird, wenn eine Mehrheit diese Meinung vertritt. Das hat etwas mit dem menschlichen Grundbedürfnis zu tun, zu einer Gruppe dazuzugehören. So entsteht die Gefahr, dass man auch einer kollektiv falschen Meinung anhängt. Das kennen wir aus dem Nationalsozialismus und aus dem DDR-Sozialismus. Ich erkenne das auch in dieser aus meiner Sicht narzisstischen Gesellschaft. Wichtig ist, auf sich und auf seinen eigenen Anteil zu schauen. Was ist meine Schuld, wo bin ich Opfer, aber auch Täter einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung? Das geschieht nicht ausreichend.

Steht 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mehr persönliche Weiterentwicklung an, damit sich die Gesellschaft weiterentwickeln kann?

Das wäre mein Wunsch. Ich sehe Zusammenhänge mit der Entwicklung des Kindes. In den ersten Lebensjahren wird die Persönlichkeit geprägt, die dann für ein Leben weiterwirkt. Deshalb ist es die beste Investition, wenn man für die beste Frühbetreuung von Kindern sorgt. Dann bekommt man emotional sichere, stabilere, friedfertigere Menschen, als wenn man die Kinder schlecht behandelt. Es wäre gut, wenn Politik und Wirtschaft das mehr berücksichtigen würden. Gerade gibt es die Tendenz, sehr rasch eine Fremdbetreuung zu favorisieren. Das sehe ich und viele meiner Kollegen kritisch, Krippe vom ersten bis dritten Lebensjahr eher nein, Kindergarten eher ja. Dazu gehört aber ökonomische und psychologische Unterstützung.

Sie werben sehr für das Zuhören, warum?

Häufig ist es so, dass man nur darauf wartet, bis man die Stelle findet, an der man sein Argument anbringen kann. Das ist kein gutes Zuhören. Für meine Arbeit ist das aktive Zuhören wichtig. Mir sagt jemand etwas, aber ich höre nur das, was ich hören kann und will. Das ist mitunter sehr verzerrend zu dem, was gesagt wird. Also versuche ich zu formulieren, was ich verstanden habe und frage, ob das richtig ist. Eventuell wird das bestätigt oder präzisiert. So wird auch das Gemeinte mit verstanden. Das könnte schon in der Schule geübt werden. Das wünschte ich mir auch in der Gesellschaft und auch im Bundestag.

Politiker würden vielleicht argumentieren, dass zur politischen Auseinandersetzung eine gewisse Zuspitzung dazugehört. Schließt sich das aus?

Entscheidend ist die Grundhaltung. Wenn ich immer davon ausgehe, ich muss den Gegner fertigmachen, schwächen und unbedingt meine Position durchsetzen, dann halte ich das für schädlich für das soziale Auskommen. Das ist keine Verständigung. Die Schärfe einer Aussage sollte in den Inhalten bestehen. Dafür muss man sich Mühe geben, die vertretenen Inhalte gut zu begründen. Eine Beschimpfung des Gegners ist das Gegenteil von dem, was gutes Zuhören bedeutet. Auch da gibt es wieder Parallelen zu Eltern-Kind-Beziehungen. Wir empfehlen auch da immer Ich-Botschaften statt Du-Botschaften, also zu sagen: Ich empfinde das so und nicht Du bist so. Die Ich-Botschaft hält die Beziehung lebendig, die Du-Botschaft belastet sie.

Sie selbst schauen auch auf 30 Jahre im wiedervereinigten Deutschland zurück. Wie fällt Ihr persönliches Fazit aus?

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Ich habe sehr unter den DDR-Verhältnissen gelitten, weil ich mich da nicht einordnen wollte. Ich bin dann bei der Kirche untergeschlüpft und war dort sehr zufrieden, weil ich da frei arbeiten konnte. Ich war begeistert über den Zusammenbruch der DDR und war auch aktiv bei den Demonstrationen. Dann habe ich die neuen Verhältnisse genossen und auch beruflich neue Möglichkeiten gefunden. Das war alles positiv. In den letzten Jahren bin ich enttäuscht über die Entwicklung in ganz Deutschland. Ob das bei der kindlichen Frühbetreuung ist oder bei den demokratischen Defiziten, die ich sehe, das entsetzt mich. In der DDR gab es eine starke politisch-ideologische Abhängigkeit, heute gibt es eine starke und zunehmend auch moralische Abhängigkeit. Aus meiner Sicht steht in beiden Fällen als Resultat ein unsicherer und abhängiger Mensch. Das bleibt mein Thema. Ich unterscheide zwischen äußerer und innerer Demokratie. Es fehlt aus meiner Sicht die innerseelische Verankerung demokratischen Erlebens bei vielen Menschen, und das gefährdet demokratische Verhältnisse.

Mit Hans-Joachim Maaz sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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