
Auf einem zerstörten russischen Panzer schwenkt eine Frau in Kiew die ukrainische Flagge.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
In dieser Woche könnte Bundeskanzler Scholz in die Ukraine reisen. Er wird dort zweifellos freundlich begrüßt werden. Doch die ukrainische Öffentlichkeit fragt sich zunehmend, warum Deutschland sie so zögerlich mit den dringend benötigten Waffen versorgt.
Berichten zufolge besucht Bundeskanzler Olaf Scholz in dieser Woche die Ukraine. Sollte er dies tun, möglicherweise zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, trifft er auf ein Land, das die Bundesrepublik mittlerweile skeptisch sieht. "Hätten wir nur Deutschland und Frankreich als Verbündete, würden wir Blut spucken", sagte der ukrainische Journalist Dmytro Gordon kürzlich im Sender Ukraine 24.
"Gott sei Dank gibt es noch die USA, Polen und das Baltikum", fuhr Gordon fort. In seine Kritik schloss er Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie den französischen Präsidenten und dessen Amtsvorgänger François Hollande ein. "Merkel, Hollande und Macron haben sich Putin gegenüber sehr loyal verhalten. Wir können alle sehen, wozu das geführt hat."
Diese Stimmung, enttäuscht zu sein vom Verhalten der deutschen Regierung, ist in der ukrainischen Öffentlichkeit weit verbreitet. "Aus Deutschland kommt nichts als Geld zu uns. Es gibt ein wenig humanitäre Hilfe. Medizin, blutungsstillende Mittel. Aber meistens nur finanzielle Hilfe", sagte der ukrainische Militärexperte Oleg Zhdanov der Nachrichtenagentur UNIAN. "Deutschland zahlt mit Geld. Die Summen sind groß, aber Waffen sind wichtiger als Geld."
Wo bleiben Waffen aus Deutschland?
Deutschland habe der Ukraine Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard versprochen. "Das ist etwas, das wir dringend brauchen", so Zhdanov weiter. Aber weder die Geparde noch die Leopard-Kampfpanzer hätten die Ukraine erreicht. "Der ganze deutsche Zoo ist irgendwo verloren gegangen." Dem Bundeskanzler machte der Militärexperte direkte Vorwürfe. "Das Verhalten von Olaf Scholz könnte in diplomatische Lehrbücher aufgenommen werden: als klassische Version der Politik der doppelten Standards."
Vor zwei Wochen hatte Scholz den Vorwurf, Deutschland tue nicht genug, im Bundestag vehement zurückgewiesen - denn die Kritik in Deutschland am Kanzler ist kaum weniger scharf. Jenseits der geplanten Lieferung von 30 Gepard-Panzern und 12 Panzerhaubitzen, so Scholz, habe Deutschland bereits mehr als 15 Millionen Schuss Munition zur Verfügung gestellt, hunderttausende Handgranaten und 5000 Panzerabwehrminen. Hinzu kämen umfangreiches Sprengmaterial, Maschinengewehre und weiteres Material. "So zu tun, als sei das nicht ein ganz besonders weitreichender Schritt gewesen, den wir jetzt gemacht haben, das ist nicht in Ordnung und auch nicht vernünftig", sagte Scholz im Parlament und kündigte zudem die Lieferung des Luftabwehrsystems Iris-T SLM sowie von Raketenwerfern und Radarsystemen an.
Das Problem sind in der Tat unterschiedliche Standards: Während Scholz die deutschen Lieferungen an der Zeit vor dem Krieg misst, als aus deutscher Sicht schwere Waffen für die Ukraine unmöglich waren, gehen der ukrainischen Armee schlicht Munition und Waffen aus. Zudem wurde nach ukrainischen Angaben von den schweren Waffen bislang nichts geliefert. Seit dem 3. Mai seien zwar sechs Millionen Schuss Munition angekommen, aber keine Waffen mehr, sagte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. "Daher hoffen wir, dass die Ampel-Regierung endlich auf das Gaspedal drückt, um sowohl den Umfang als auch das Tempo massiv zu erhöhen, damit die Ukraine die russische Großoffensive im Donbass abwehren kann."
Selenskyj fordert von Scholz eine Entscheidung
Wie tief die Enttäuschung ist, zeigt auch das Interview des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit dem ZDF vom Montag. "Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt", sagte Selenskyj darin. "Er und seine Regierung müssen sich entscheiden." Deutschland dürfe keinen Spagat zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland versuchen.
Dass es Deutschland in Wahrheit nicht um die Angst vor einer Ausweitung des Kriegs oder um innere Befindlichkeiten gehen könnte, ist aus ukrainischer Sicht keine abwegige Annahme. Im Gespräch mit dem Journalisten Dmytro Gordon unterstellt der in den USA lebende russische Politologe Andrey Piontkovsky, Macron und Scholz seien nicht an einem ukrainischen Sieg interessiert, "weil sie wissen, dass es für sie in der neuen Sicherheitsstruktur keinen Platz gibt". Als Motiv der Franzosen diagnostiziert Piontkovsky das Bedürfnis, "sich den Amerikanern entgegenzustellen, mit Moskau zu flirten und sich als Vermittler zwischen dem Westen und dem Kreml anzubieten". Die Deutschen dagegen hätten ein wirtschaftliches Interesse an guten Beziehungen zu Russland.
Diese Kritik mag in Deutschland überzogen wirken - für ukrainische Ohren klingen sie nach fast vier Monaten Krieg plausibel. "Putin als Person und sein Regime wären ohne die Unterstützung des Westens in dieser Welt wertlos. Sie haben ihn großgezogen und seine Existenz ermöglicht", sagte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch dem ukrainischen Nachrichtensender TSN. "Und wäre da nicht diese verdammte Ukraine mit ihren stets abweichenden Meinungen und Meinungsverschiedenheiten, wäre alles in Ordnung."
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 14. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, Mitarbeit: hvo