Verhaftungswelle in Türkei Özdemir fordert Protest gegen Erdogan
04.11.2016, 10:54 Uhr
Polizei nahe der HDP-Parteizentrale in Ankara.
(Foto: AP)
Nach regierungskritischen Journalisten werden in der Türkei auch ranghohe Oppositionspolitiker festgenommen. Brüssel ruft die EU-Botschafter in Ankara zusammen. In Berlin fordert Cem Özdemir alle Parteien zu einer gemeinsamen Protestaktion auf.
Die Festnahmen der Chefs der türkischen Oppositionspartei HDP sind in Berlin und Brüssel kritisiert worden. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte die deutschen Parteien zum gemeinsamen Handeln auf. "Ich schlage vor, dass alle demokratischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, gemeinsam agieren", sagte er. Der Protest gegen das Vorgehen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan bekomme mehr Gewicht, wenn die Fraktionen von CDU/CSU bis zur Linkspartei eine gemeinsame Stimme hätten.
Das Drangsalieren von Medien und Opposition in der Türkei sei "eine Art Putsch". Özdemir sprach sich erneut gegen den formellen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus, da das Erdogan in die Karten spielen würde. Mit Blick auf Probleme auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei dürfe es nicht "business as usual" geben, sagte der Grünen-Vorsitzende. "Wenn es nicht sofort zu einer Änderung kommt, dann können wir unsere Soldaten dort nicht belassen."
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini schrieb, sie sei "äußerst besorgt". Sie stehe in "Kontakt mit den Behörden" und habe ein "Treffen der EU-Botschafter in Ankara" einberufen. CSU-Vize Manfred Weber sagte im "Morgenmagazin" der ARD, Präsident Recep Tayyip Erdogan müsse zur "Basis der Rechtsstaatlichkeit" zurückkommen. Er könne "nicht mit Kollektivschuld-Methoden" agieren.
"Die Türkei entfernt sich leider von Europa"
Weber betonte, dass Europa an der Kritik festhalten würde, ungeachtet der Folgen für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei. "Die Türkei entfernt sich leider von Europa und die Türkei muss wissen, dass sie uns Europäer nicht unter Druck setzen kann, auch bei der Flüchtlingsfrage nicht. Es wird keine Zugeständnisse geben", sagte Weber. "Wir bauen darauf, dass die ausgestreckte Hand Europas ergriffen wird."
Linken-Chefin Katja Kipping forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf, sich zu der Verhaftungswelle zu äußern. Zudem warf sie der Türkei vor, die sozialen Medien wegen der Festnahmen zu blockieren.
Bei nächtlichen Razzien hatte die türkische Polizei elf HDP-Abgeordnete festgenommen, darunter die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Auf Betreiben von Staatspräsident Erdogan war im Mai ihre Immunität aufgehoben worden. Erdogan beschuldigt die prokurdische HDP, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein.
In Hamburg, Berlin und Hannover versammelten sich in der Nacht zum Freitag spontan jeweils rund 100 Kurden in der Stadtmitte zu Protestkundgebungen. Nach Angaben der Polizei waren die Menschen aufgebracht, verhielten sich aber friedlich.
Justizminister verteidigt Festnahmen
Der türkische Justizminister Bekir Bozdag sagte, die Festnahmen von Abgeordneten seien rechtskonform gewesen. Weder Kanzlerin Merkel noch EU-Kommissare hätten das Recht, der Türkei "Lehren zu erteilen", betonte er. "Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche."
Bozdag griff zugleich Deutschland scharf an. "Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche", sagte der Minister. "Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte." Erdogan hatte Deutschland am Donnerstag vorgeworfen, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt "rassistische Übergriffe gegen Türken" zu verhindern. Bundesaußenminister Steinmeier hatte das als nichtnachvollziehbar zurückgewiesen.
HDP spricht von "Lynchjustiz"
Die Partei HDP rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, auf "diesen Putsch des Erdogan-Regimes zu reagieren". Zudem verurteilte sie die Festnahme von elf ihrer Abgeordneten scharf. Es handele sich um "politische Lynchjustiz", sagte Sprecher Ayhan Bilgen in einer über den Dienst Periscope live übertragenen Stellungnahme in Ankara. Bilgen rief die HDP-Anhänger zudem zu Solidarität und Protesten auf.
Eine Pressekonferenz in der HDP-Parteizentrale in Ankara verhinderte die Polizei. Diese lasse Journalisten auch mit dem Presseausweis der Regierung nicht durch die Absperrungen an der Zentrale, berichteten mehrere Reporter vor Ort.
Zuletzt waren die Behörden auch massiv gegen kritische Medien vorgegangen, etwa gegen die Zeitung "Cumhuriyet". Mehrere regierungskritische Journalisten waren festgenommen worden, darunter der Chefredakteur der "Cumhuriyet". Kanzlerin Merkel hatte die Türkei deshalb am Mittwoch scharf kritisiert. Sie sagte, es sei "in höchstem Maße alarmierend, dass das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit immer wieder eingeschränkt wird".
Wenige Stunden nach den Festnahmen der Oppositionellen gab es vor einer Polizeistation im südöstlichen Diyarbakir eine Explosion. Nach Regierungsangaben sind mindestens acht Menschen getötet worden. Mutmaßlich handele es sich um einen Selbstmordanschlag, unter den Toten sei ein "Terrorist" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim. Mehr als Hundert Menschen seien verletzt worden.
Quelle: ntv.de, hul/dpa/AFP