Wenn Panzer auf Moskau zurollen "Prigoschins Aufstand war ein Zeichen seiner Schwäche"
25.06.2023, 20:36 Uhr
Am Samstag brachten Wagner-Söldner die Stadt Rostow am Don für mehrere Stunden unter ihre Kontrolle.
(Foto: IMAGO/SNA)
Mit seinem Aufstand am Samstag nimmt Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin dem russischen Staat für kurze Zeit das Gewaltmonopol aus der Hand. Doch war sein Marsch auf Moskau eine Verzweiflungstat, erklärt Russland-Experte Stefan Meister im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Die Lage gestern wirkte in Teilen wie "Russen am Rande des Nervenzusammenbruchs". Wenn man allerdings bedenkt, dass Prigoschin - wie alle Söldnerführer - gemäß eines neuen Gesetzes seine Truppen bald der Armee unterstellen sollte, wirkt der Marsch auf Moskau schon nicht mehr ganz so wahnsinnig, oder?
Stefan Meister: Wir sehen, dass das Wirtschaftsmodell privater Söldnertruppen in Russland nicht mehr funktioniert. Das ist einer der Gründe für diesen aktuellen Konflikt.
Darf ich kurz einhaken? Woran genau machen Sie das fest?
Die Funktion, die Wagner ursprünglich für den russischen Staat hatte, war ja, im Verdeckten zu agieren.

Stefan Meister leitet das Programm Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Für die OSZE war er mehrfach Wahlbeobachter in postsowjetischen Ländern.
Wie in Libyen, Syrien oder Mali. Im geheimen Auftrag des Kreml und ohne, dass der damit offiziell in Verbindung gebracht werden kann.
Nun hat Wagner mit dem Krieg gegen die Ukraine offiziell agiert und soll sich offiziell registrieren lassen. Wozu braucht der Kreml die Truppe dann noch außerhalb des eigenen Militärapparates? Man könnte noch einen Schritt weitergehen: Wagner und die russische Armee konkurrieren um Rekruten. Außerdem hat Wagner in den Kämpfen in der Ukraine so viele Truppen verloren, dass sie zukünftig in diesem Krieg keine entscheidende Rolle mehr spielen werden. Der Kreml hat das Interesse, die Kämpfer in die regulären militärischen Strukturen besser zu integrieren, auch um sie zu kontrollieren. In den vergangenen Wochen ist die Wagner-Truppe dann systematisch ausgetrocknet worden: hat keine Munition mehr bekommen, durfte keine Kämpfer mehr in den Gefängnissen rekrutieren. Prigoschin ist öffentlich immer lauter und aggressiver aufgetreten. Am Ende ging es auch um seine Person, da er im Verteidigungsministerium unbeliebt ist.
Damit zurück zur Ausgangsfrage: Prigoschin sollte seine Truppen der Armee unterstellen. War vor diesem Hintergrund der Aufstand kühn, aber nicht verrückt?
Im Prinzip ist das neue Gesetz der Versuch, private Militärakteure stärker in die Struktur des Verteidigungsministeriums zu integrieren. Nach der Integration hätte Prigoschin sicher noch eigene Kommandostrukturen gehabt - in der Hinsicht hätte er also nicht komplett die Kontrolle verloren -, aber er hätte sich mit einer übergeordneten Führungsebene abstimmen müssen. Gleichzeitig erkennt er weder Verteidigungsminister Schoigu noch Generalstabschef Gerassimow an. Er hätte also Kontrolle und Eigenständigkeit verloren. Das Militär und die Sicherheitsdienste mochten Prigoschin nicht und Putins Schutz hat er in den letzten Wochen wohl verloren. Aus meiner Sicht kämpfte er gestern um sein persönliches Überleben. Seinen Aufstand sehe ich als Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Prigoschin war unter Druck.
Nur mit seinen eigenen Kämpfern hatte der Wagner-Chef sicher keine Chance, den Aufstand durchzuziehen. Aber bestand eine ernsthafte Möglichkeit, dass sich frustrierte Angehörige der russischen Armee ihm angeschlossen hätten?
Ich bin da sehr skeptisch. Prigoschin ist eine Figur, die über soziale Medien zu einer Person der Öffentlichkeit geworden ist, darüber hat er Popularität erlangt, aber zugleich war er immer komplett abhängig vom russischen Staat - insbesondere von Ressourcen des Verteidigungsministeriums, mit dem er sich überworfen hatte. Bestimmt gibt es Leute im Militär, auch in den Sicherheitsdiensten, die mit ihm sympathisieren. Aber dass sie zu ihm überlaufen würden, sich gegen Putin stellen, das hielt und halte ich für fast unmöglich. Prigoschin hat einfach nicht die Macht und nicht die finanziellen Ressourcen, um den russischen Staat herauszufordern. Er hat gepokert und vielleicht das Maximum erreicht: sein Überleben abgesichert. Zumindest kurzfristig.
Aber er hat Putin auch eine sichtbare Schmach zugefügt. Ist sein Leben nicht noch gefährdeter als zuvor?
Gehen wir mal einen Schritt zurück: Prigoschins Hauptproblem war, dass er keinen direkten Zugang zu Putin hatte. Und er war quasi vogelfrei, von Putin in den letzten Wochen freigegeben worden. Das hat man ja auch daran gesehen, dass er von der russischen Armee angegriffen wurde. Darum musste er etwas inszenieren, worauf Putin reagiert und ihm persönlich freies Geleit gibt. Das hat geklappt. Ich deute den versuchten Aufstand als einen Akt der Erpressung, um in Verhandlungen mit Putin zu kommen.
Der demnach erfolgreich war.
Zumindest öffentlich hat Prigoschin erstmal das Zugeständnis bekommen, dass ihm und seinen Leuten nichts passiert. Ich glaube, mehr war nicht zu erreichen.
Der US-Geheimdienst sieht Anzeichen, dass Putin mindestens einen Tag vorher vom Putschplan gewusst hat.
Mit solchen Einschätzungen wäre ich vorsichtig. Man hat da sicherlich Truppenbewegungen gesehen, man hat Gespräche abgehört, und das haben die Russen vermutlich auch. Erstaunlich ist in jedem Fall, dass es kaum Widerstand gab. Dass dann auch noch Lukaschenko vermittelt, der eigentlich nichts mehr zu sagen hat, wirkt wie ein abgekartetes Spiel. Aber ob es das war? Und um was zu erreichen? Möglicherweise hatte der Kreml in dem Moment keine Truppen zur Verfügung, die er Prigoschin entgegenstellen konnte. Vielleicht gab es auch im Vorfeld schon Verhandlungen. Wir wissen es tatsächlich nicht.
Anfangs sagte Putin, Aufständische werden zur Rechenschaft gezogen. Dann schießen die Aufständischen sechs Hubschrauber ab und töten wohl mehr als ein Dutzend russische Soldaten. Am Ende sagt Putin: Nichts für ungut. Kann er sich diese Schwäche leisten?
Das ist problematisch. Der Kreml hat gestern zeitweilig das Gewaltmonopol in Russland verloren. Private Armeen haben den Krieg in Teilen auf das russische Territorium getragen. Und Putin reagierte mit einer aus meiner Sicht skurrilen Rede, fast so, als leide er unter Realitätsverlust. Er schien gar nicht die Notwendigkeit zu sehen, sofort zu reagieren. Wir sehen, wie wenig es braucht, um dieses Regime unter Druck zu setzen. In dieser Hinsicht ist Putins Legitimation angekratzt. Eigentlich darf er das nicht zulassen, eigentlich müsste er Prigoschin töten oder vor Gericht stellen lassen, um ein Exempel zu statuieren.
Warum tut er das nicht?
Meine Deutung wäre, dass gestern Schadensbegrenzung betrieben wurde. Möglicherweise hat der Kreml derzeit tatsächlich nicht genug Ressourcen, die er Wagner entgegensetzen kann, zu wenig Gerät und zu wenig Personal, um die Söldner mit Gewalt zu stoppen. Das wusste Prigoschin vielleicht auch. Putin hat also diesen Kompromiss gewählt, um einen größeren Konflikt mit eventuell mehr Toten, mit einer möglichen Niederlage der Nationalgarde, mit Opfern in der Bevölkerung zu vermeiden. Dazu ist die Situation ohnehin prekär: Russland ist im Krieg, die Ukraine in einer Gegenoffensive, das Timing war für Prigoschin sehr gut. Man könnte Putins Verhalten also als eine Form der Schadensbegrenzung deuten, weil er zu diesem Zeitpunkt keine anderen Möglichkeiten hatte. Man kann sich entsprechend vorstellen, dass Prigoschin auf Dauer nicht sicher sein wird.
Sie sagen, dass der Staat zwischenzeitlich das Gewaltmonopol verloren hat. In Moskau wurden schon Sandsäcke aufgehäuft in Erwartung eines Straßenkampfes. Dieser sichtbare Ausweis von Schwäche, wie wird der in der Bevölkerung wahrgenommen? Kriegt Putin das wieder eingefangen?
Ich sehe in Russland eine passive, demobilisierte Bevölkerung, die letztlich fast alles glaubt, was die Propaganda sagt, oder dies glauben möchte, um keine Probleme mit den Sicherheitsorganen zu bekommen. Es gibt dort keine Gesellschaft, die sich gegen Putin stellen würde. Darauf ist der Sicherheitsapparat vorbereitet und wäre immer in der Lage, Protest zu unterdrücken. Aber er ist nicht vorbereitet auf jemanden wie Prigoschin. Ich glaube, dass der Kreml die Lage medial, propagandistisch als auch durch die Sicherheitsorgane in den Griff bekommt. Der entscheidende Punkt für mich ist ein anderer.
Nur zu.
Das System hatte nach meiner Einschätzung keine Information vom Kreml, wie es reagieren soll. Es gab keine Statements außer der Rede von Putin. Deswegen wurden panisch irgendwelche Sachen gemacht. Wir sehen, wie abhängig das System vom Präsidenten ist: Wenn er selbst nicht kommuniziert, dann ist der Apparat inzwischen nicht mehr handlungsfähig. Dieses überpersonalisierte System, das ganz auf Putin ausgerichtet ist, kann ohne seine Entscheidungen in wichtigen Situationen nicht mehr reagieren.
Mit Stefan Meister sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de