Politik

30 Jahre nach dem Völkermord Ruandas Auferstehung ist auf Kompromisslosigkeit gebaut

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Die ruandische Firma Zipline hat Drohnen für den Transport von Blutkonserven und Tiersperma entwickelt. Allerdings sind militärische Beobachter besorgt.

Die ruandische Firma Zipline hat Drohnen für den Transport von Blutkonserven und Tiersperma entwickelt. Allerdings sind militärische Beobachter besorgt.

(Foto: ntv / Screenshot)

30 Jahre nach dem Völkermord der Hutus an den Tutsi in Ruanda ist das Land modern und sauber - ein Magnet für Investoren. Aber Präsident Kagame führt seinen Staat mit harter Hand.

Als am Morgen des 7. Aprils 1994 ein Flugzeug beim Landeanflug auf die ruandische Hauptstadt Kigali mit einer Rakete abgeschossen wurde, wurden gleich zwei afrikanische Präsidenten ermordet: Ruandas Präsident Juvenal Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira. Beide gehörten der Volksgruppe der Hutus an. Noch am selben Tag begann ein fast 100 Tage dauerndes Massaker, ein blutiges Kapitel in der afrikanischen Geschichte, dessen Folgen bis heute die ostafrikanische Region prägen.

Etwa zwei Drittel der zur Volksgruppe der Tutsi gehörenden Minderheit wurde getötet. Angeführt wurde der Völkermord von der von Hutus dominierten Armee, der Präsidentengarde und Nationalpolizei. Auch moderate Hutus, die sich nicht an den Mordaktionen beteiligen oder sie verhindern wollten, waren unter den Opfern. Zwischen 800.000 bis eine Million Menschen starben. Westliche Regierungen schauten zu, griffen nicht ein. Die UN zog sogar ihre Blauhelme ab und fachte das Morden so weiter an.

Der Völkermord in Ruanda hinterlässt in vieler Hinsicht schmerzhafte Erinnerungen. In Ruanda natürlich, aber auch auf internationaler Ebene. Umso erschreckender ist, wie wenig beide Seiten gelernt haben. Das kleine Ruanda ist auferstanden, hat eine bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht. Heute ist der Binnenstaat "die Insel der Ruhe" auf dem sonst konfliktreichen afrikanischen Kontinent. Modern, sauber, kaum Kriminalität. Das lockt Investoren, doch hinter der Fassade des Erfolgs steht ein autokratischer Staat, der von dem ehemaligen Rebellenführer und heutigen Präsidenten Paul Kagame mit harter Hand geführt wird. Ruandas Auferstehung ist auf Kompromisslosigkeit gebaut.

An jeder Ecke zwei Polizisten

Norman Schräpel steht an der roten Ampel in der ruandischen Hauptstadt Kigali und quatscht herzlich lachend mit den anderen Motorradfahrern. Die Maschine des Deutschen erregt Aufsehen, ist sie doch deutlich stärker als das Heer der Einheitsmotorräder, die Ruandas Städte bestimmen. Gemeinsam schauen alle erwartungsvoll auf digitalen Countdown der Ampel, um auf Punkt Null wie ein Schwarm Bienen loszurasen, aber geordnet und organisiert. Es ist so ganz anders als in anderen afrikanischen Großstädten. Kigalis Straßen sind sauber und an jeder Ecke stehen gleich zwei Polizisten. "Ich fahre hier nur eine kleine Maschine. Bei den Geschwindigkeitsbegrenzungen lohnt sich nicht anderes", sagt Schräpel fast entschuldigend. 60 km/h gilt überall im Land. Ganz selten geht mal 80. An jeder Ecke steht ein Blitzautomat, alle "Made in Germany". Wie alles in Ruanda wird auch die Geschwindigkeitsbegrenzung akribisch kontrolliert, mit modernsten Mitteln überprüft, polizeilich durchgesetzt und Verstöße teuer bestraft. Die Straßenlage ist gewissermaßen Symbol für das neue Ruanda.

"Was man von Ruanda lernen kann, ist, glaube ich, dass man mit sehr viel politischem Willen sehr schnell Fortschritte machen kann", sagt Norman Schräpel. Er ist Chef des deutsch-ruandischen Digital Transformation Center in Ruanda. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hilft Schräpels Team, Ruanda zu digitalisieren. Schneller als Deutschland. "Ganz häufig kennt man Ruanda aus der Geschichte, dem Genozid vor dreißig Jahren, und selten weiß man, dass hier eine stille technologische Revolution stattfindet", so Schräpel. Es hilft, dass alles im Staat zentral organisiert ist. "Wir arbeiten auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Auf der einen Seite bilden wir die Fachkräfte auf, die es braucht, in KI, in Cybersecurity", so Schräpel.

"Sehr, sehr starke Partner in der Regierung"

Auf der anderen Seite helfen die Deutschen hier tatsächlich zu programmieren, versuchen, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass Investitionen von außen möglich werden. "Man hat hier sehr, sehr starke Partner in der Regierung." Stark in vieler Hinsicht. Präsident Kagame steht über allem. Er gibt persönlich die Richtung vor. Der 66-Jährige führt sein Land und seine Partei wie ein Diktator. Immer wieder lässt er politische Gegner verhaften, auch töten, zahlreich davon sogar im Ausland in KGB-Manier. Die einstige Rebellenbewegung, die Ruandische Patriotische Front (RPF), an deren Spitze er vor dreißig Jahren die mordenden Hutu-Machthaber aus dem Land über die Grenze in die Demokratische Republik Kongo vertrieb, ist Favorit für die am 15. Juli bevorstehenden Wahlen.

Kagame tritt zum vierten Mal für die Präsidentschaft an. 2017 gewann er 99 Prozent der Stimmen. Die Zahlen lassen Hintergründe des Wahlprozesses erahnen. Alle ernstzunehmenden Gegenkandidaten sind entweder in Haft oder wurden wie Oppositionspolitikerin Victoire Ingabire Umuhoza vor wenigen Tagen per Gerichtsentscheid von einer Kandidatur abgehalten. Nach ihrem letzten Versuch, zu kandidieren, verbrachte sie acht Jahre im Gefängnis, fünf davon in Isolationshaft. Ihr wurde terroristisches Handeln sowie der Verharmlosung des Genozids vorgeworfen.

"Diese fünf Jahre Isolationshaft waren hart", sagt sie. "Ich konnte mich kaum mental zusammenhalten. Einmal pro Woche erlaubten sie mir fünf Minuten an der frischen Luft. Jeden Freitag durfte ein Besucher kommen. Für zehn Minuten." Ingabire wurde 2018 von Präsident Kagame persönlich begnadigt. Doch sie hat keinen Anspruch auf einen Pass, darf sich nicht politisch engagieren, ihre Familie in den Niederlanden nicht besuchen. "Ich mache trotzdem weiter", sagt sie. "Seitdem der Völkermord an den Tutsis begangen wurde, hat sich in Ruanda keine Demokratie entwickelt. Wir brauchen eine Reform. Wir brauchen unabhängige Gerichte, die Menschenrechte verteidigen und wir müssen unbedingt eine wirkliche Versöhnung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen einleiten."

In Kigali zahlt jeder mit dem Smartphone

Für westliche Regierungen, auch die deutsche, gilt Kagames Ruanda trotzdem als sichere Bank. In einer investitionsfreundlichen Diktatur kann man gute Geschäfte machen. Das neueste deutsche Unternehmen, das sich in Kigali niederließ, ist Biontech. Es ist der einzige afrikanische Standort des Unternehmens aus Mainz.

Derartige Investitionen liebt Präsident Kagame. Vor kurzem verurteilte er das auf dem afrikanischen Kontinent weit verbreitete und armutsbedingte Tragen von Lasten auf dem Kopf. Derartiges Verhalten passe nicht zu einem modernen Staat wie Ruanda, sagte Kagame. Seine visionäre Politik konzentriert sich auf die Städte, vornehmlich Kigali. Dort zahlt inzwischen jeder mit dem Handy. "Momo Mobile" heißt das digitale Bezahlsystem. Eigens für Ruanda konzipiert, wie alle Innovationen geht dieser Plattform gleich auch ein Geschäftsmodell einher, das sich verkaufen lässt.

Die ruandische Regierung ist auch eine der wenigen in Afrika, die eine eigene Strategie für Künstliche Intelligenz hat. "Das Ziel ist, alles um KI schnell für die Bevölkerung, aber auch für den Staat zu nutzen", so Schräpel. Sein Team unterstützt ein Projekt, das mithilfe von KI Erdrutsche vorhersagen soll. Kameras werden installiert, die mehrere 1000 Bilder am Tag aufnehmen und Risse im Boden feststellen können. Ruanda wäre nicht Ruanda, stünde nicht ein Geschäftsmodell dahinter. Man bittet die GIZ um Hilfe bei der Entwicklung - ist das Projekt erfolgreich, verkauft es Ruanda als eigenes an andere.

Drohnen für Blutkonserven und Schweinesamen

Es gibt viele dieser Beispiele, Transportdrohnen etwa. Die Firma Zipline erhielt in die Lizenz, alle Blutkonserven in Ruanda zu transportieren. Sie werden aus der Luft in kleinen Paketen verpackt über Krankenhäusern abgeworfen. Nirgendwo war Derartiges je angedacht, zugelassen geschweige denn von einer Regierung unterstützt worden. "Wir führen inzwischen täglich durchschnittlich 458 Flüge in Ruanda durch", sagt CEO Pierre Kayitana. Neben Blut werden auch Medikamente und Schweinesamen per Drohne transportiert. Letzterer wird über abgelegenen Farmen abgeworfen, direkt in die Hände eines Tierarztes, bereit für die künstlichen Befruchtungen. "Proof of concept", Machbarkeitsnachweise liefern, das ist die ruandische Regierungsdoktrin. Frei nach der Devise: Jeder kann zu uns kommen und hier neue Technologien ausprobieren. Investoren lieben diese Spielwiese. Die Sorge, dass die relativ großen Drohnen über bewohntem Gebiet abstürzen und Bürger verletzen könnten, nimmt man in Ruanda in Kauf. Ihre Flugsicherheit wurde hier bewiesen. Zipline-Drohnen sind inzwischen in fünf afrikanischen Ländern im Einsatz. "Auch in der Ukraine fliegen wir. Australien und Großbritannien sind die nächsten", sagt Kayitana stolz.

Militärische Beobachter sind jedoch besorgt. Ruandas Drohneneinsätze finden in dem kleinen Land unweigerlich an der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo statt. Dort, wo M23-Rebellen gerade, offenbar mit Unterstützung der ruandischen Regierung, versuchen, Goma einzunehmen. Die Erfahrungen, die das militärisch hoch gerüstete Ruanda mit dem Transport von Blut mit Drohnen gesammelt hat, lässt sich leicht militärisch nutzen. Die M23-Rebellen sind sozusagen eine Armee Ruandas, die in einem benachbarten Land agiert. Präsident Kagame weist die Vorwürfe der Unterstützung regelmäßig zurück, doch alle internationalen Untersuchungen belegen das Gegenteil. Es ist die Weiterführung der Kämpfe zwischen Tutsis und Hutus dreißig Jahre nach dem Völkermord. Millionen Menschen im Osten des Kongos sind in diesen Tagen auf der Flucht. Auch das ist - zynisch gesagt - innovative Politik Ruandas.

Aber es gibt keine Sanktionen westlicher Nationen. Keine folgenreiche Intervention. Im Gegenteil. Großbritannien hat mit Ruanda Milliarden-Verträge für die Abschiebung und Aufnahme illegaler Migranten abgeschlossen. Zahlreiche britische und europäische Gerichte haben diese Pläne zwar wegen der fragwürdigen Menschenrechtslage in Ruanda abgelehnt. Trotzdem reiste vor Kurzem eine Delegation der CDU/CSU, darunter CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, nach Kigali, um sich vor Ort zu informieren. Die Abschiebung illegaler Migranten nach dem Ruanda-Model wird von CDU und CSU offiziell für gut befunden.

Schmaler Grat zwischen digitaler Transformation und Überwachungsstaat

Dobrindt wurde in Kigali im hippen digitalen Transformationszentrum der GIZ neben Tischtennisplatte, Billardtisch und Kaffeebar über die Erfolge Ruandas unterrichtet. Am beeindruckendsten für deutsche Parlamentarier: die digitale Verwaltung. "Hier in Ruanda braucht man nur wenige Klicks auf dem regierungseigenen Onlineportal IREMBO und man bekommt innerhalb von 48 Stunden eine Geburtsurkunde, eine Baugenehmigung, einen Pass", sagt Schräpel. "Wir haben in den vergangenen Monaten viel mit den Deutschen zusammengearbeitet", sagt IREMBO Geschäftsführer Israel Bimbe. "Sie helfen uns, das ganze Ausmaß der Verwaltungsangebote zu verstehen und intelligente Wege zu finden, es den Bürgern anzubieten."

Zukünftig solle IREMBO mit deutscher Zusammenarbeit weiter ausgebaut werden. IREMBO plant Bürgern auch beim Eröffnen von Bankkonten oder Versicherungen zu helfen. Man sei der Welt weit voraus, so Bimbe. "Alles, was mit staatlichen Behörden, privaten Unternehmen oder der Universität zu tun hat, sollte zukünftig nahtlos vorwiegend digital erledigt werden." Man wolle natürlich niemandem zurücklassen. Auf dem Land gibt es deshalb "Agents", die Bürgern ohne Smartphone und Computer bei den Online-Erledigungen helfen.

In einem Überwachungsstaat wie Ruanda führt Digitalisierung unweigerlich zu mehr Bürgerkontrolle. Wenig überraschend, Datenschutz und -sicherheit werden hier nicht schwerpunktmäßig gefördert. Es ist ein schmaler Grat, auch für Norman Schräpel. "Man muss darauf achten, dass bestimmte Systeme auch anders genutzt werden können. Entsprechend nehmen wir politische Bewertungen vor, wenn es darum geht, welche Projekte umgesetzt werden können." Mit anderen Worten, die Gefahr ist erkannt, dass Deutschland einem undemokratischen System hilft, die Macht über seine Bürger auszuweiten.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen