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Täter weiter auf der Flucht Bis heute werden in Ruanda Massengräber gefunden

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Im Dezember besuchte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Ruanda - auch die Genozid-Gedenkstätte in Kigali.

Im Dezember besuchte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Ruanda - auch die Genozid-Gedenkstätte in Kigali.

(Foto: IMAGO/photothek)

Auch 30 Jahre nach dem Völkermord von 1994 werden in Ruanda Massengräber entdeckt. Und noch immer sind weit über tausend Täter weltweit auf der Flucht.

Sobald die Männer mit ihren Spaten die Erde ausheben, riecht es nach Verwesung. "Hier ist wieder etwas", ruft einer und zeigt auf einen Klumpen, an dem schwarze Erde klebt. Ein weiterer Mann kommt mit einem Plastiksack angelaufen. Vorsichtig legt er den Klumpen auf eine Plane unter einem Zeltdach. Mit Pinselstrichen entfernt er vorsichtig die Erde: Es ist der Schädel eines Kindes.

"Ngoma-Rugero-Straße Nr. 95" prangt auf einem Schild an der Hauswand, direkt nebenan, wo die Männer graben. Das Haus steht an einem abschüssigen am Hang neben einer frisch geteerten Überlandstraße im Südwesten Ruandas. "Diese Leute leben auf einem Massengrab", schüttelt Theodat Siboyintore den Kopf.

Der 44-jährige, große Mann ist der örtliche Vertreter der Organisation IBUKA, einem Selbsthilfeverband für Überlebende des Völkermordes in Ruanda 1994, in der südwestlichen Provinz Huye, in welchem das Haus steht. Er war zu Zeiten des Genozids gerade einmal 14 Jahre alt, verlor seine Eltern im Handgemenge an einer Straßensperre, wo sie vermutlich auch ermordet wurden. Bis heute weiß er nicht, wo ihre Leichen verscharrt wurden. Jedesmal, wenn wieder ein Massengrab in der Gegend ausgehoben wird, fürchtet er, die Gebeine seiner Verwandten zu finden.

Zum 30. Mal jährt sich an diesem 7. April der Beginn des Völkermordes in Ruanda 1994. Die schreckliche Vergangenheit ist nach wie vor präsent. Denn noch immer werden in dem kleinen hügeligen Land im Herzen Afrikas neue Massengräber entdeckt, noch immer sind über tausend mutmaßliche Täter auf der Flucht. Und mit jedem frisch entdeckten Massengrab, wie bei diesem hier in der Gemeinde Ngoma in der südwestlichen Provinz Huye, in welchem mehr als tausend Leichen vermutet werden, erhöhen sich stetig die Zahl der Opfer des grausamsten Menschenrechtsverbrechens der jüngeren Geschichte.

Der Geruch von Verwesung hing noch Jahre über dem Land

Über eine Million Menschen, so die offiziellen ruandischen Angaben, wurden in nur rund 100 Tagen in Ruanda 1994 ermordet, die meisten von der Ethnie der Tutsi, aber auch moderate Hutu. Die meisten Opfer wurden mit einfachen Gartenwerkzeugen erschlagen: Spitzhacken, Spaten, Macheten - ein Blutbad ohnegleichen. Überlebende wie Siboyintore berichten, dass der süßliche Geruch von Verwesung auch Monate und Jahre nach 1994 über dem kleinen Land hing.

Dreißig Jahre danach kommen die ersten verurteilten Völkermörder wieder aus den Gefängnissen frei. Viele sind alt und gebrechlich und ihre lebenslange Haftstrafe wird nun nach dreißig Jahren offiziell beendet. Über 20.000 Täter will die Regierung allein in diesem Jahr entlassen, um Platz in den völlig überfüllten Gefängnissen zu schaffen.

Doch mit der Heimkehr dieser verurteilten Täter kochen auch die lokalen Konflikte in den Gemeinden wieder auf. So auch im Fall des frisch entdeckten Massengrabes in Ngoma. Der Eigentümer des Hauses neben dem Massengrab mit der Hausnummer 95 ist Jean Baptiste Hishamunda, mittlerweile 86 Jahre alt. Von 1994 an saß er im Gefängnis. Er hatte 1994 auf Befehl von Soldaten der damaligen Hutu-Armee entlang der Straße, direkt vor seinem Haus, eine Straßensperre errichtet, um die Tutsi an der Flucht zu hindern, so das Urteil seines damaligen Verfahrens. Was bei den Verhandlungen nicht zutage kam: Offenbar wurden die Fliehenden damals hier abgeschlachtet und in einem Massengrab auf Hishamundas Grundstück verscharrt.

Dieses wurde nun erst durch Zufall entdeckt. Wieder in Ngoma zurück, vererbte Hishamunda einen Teil seines Grundstücks an seine Tochter und deren Ehemann. Sie begannen dort, wo einst der Bananenhain war, ein Haus zu bauen. "Als sie die Erde aushoben, fanden sie Leichen, schütteten das Loch aber wieder zu", berichtet Siboyintore. "Die Nachbarn wurden aufmerksam und riefen die Polizei." Diese nahmen den alten Vater, die Tochter und deren Mann fest - wegen Verschleierung von Informationen über den Völkermord, so der Straftatbestand.

Weltweit über tausend flüchtige Täter

Manche Täter sind bis heute auf der Flucht. Sie sind nach dem Massenschlachten von 1994, als die Tutsi-Guerilla unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame das Land einnahm, in den dichten Dschungel des Nachbarlandes, der heutigen Demokratischen Republik Kongo geflüchtet, wo sich viele bis heute verschanzt haben. In den dortigen Wäldern gründeten sie später die Hutu-Miliz FDLR, die "Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas", mit dem Ziel, Ruanda zurückzuerobern und die Tutsi ein für alle Mal auszulöschen. So auch diejenigen Militäroffiziere, die Hishamunda 1994 angewiesen hatten, die Straßensperre zu errichten. Die FDLR ist bis heute der Hauptgrund, warum Ruanda immer wieder mit Soldaten in den Kongo eindringt und auch dieses Land bis heute keinen Frieden findet.

Einige flüchtige Täter schafften es, sich bis heute im Exil in Europa, den USA, Kanada oder Australien zu verstecken. Noch immer suchen Ruandas Staatsanwälte die Täter. Doch die Zeit drängt, denn Täter und auch Zeugen werden alt, die Erinnerungen schwach.

Dass viele der hastig zugeschütteten Massengräber nach 1994 überhaupt gefunden wurden, verdanken die Überlebenden meist den Geständnissen der Täter. In den sogenannten Gacaca-Gerichten - zu denen traditionell die Gemeinden zusammenkamen, um Streitigkeiten zu diskutieren - wurden vom Jahr 2002 an landesweit die grausamen Verbrechen des Völkermordes verhandelt, denn die Justiz war zusammengebrochen.

Eine Million Täter wurden verurteilt

Diese Dorfgerichte mit ihren Laienrichtern verhandelten bis 2012 über zwei Millionen Fälle, verurteilten über eine Million Täter. Diese konnten Hafterleichterungen erwirken, wenn sie freiwillig zugaben, wo sie Massengräber angelegt und Leichen in den zahlreichen Sümpfen des Landes versenkt hatten. Doch nicht alle gestanden, so zeigt es jetzt das Beispiel von Hishamunda in Ngoma.

"Glücklicherweise", so Jean Bosco Siboyintore, oberster Staatsanwalt in der Genozid-Sucheinheit Ruandas, "verjähren schwere Verbrechen wie Völkermord nicht". Dabei zeigt er auf eine Liste, die er vor sich auf dem Schreibtisch in der Staatsanwaltschaft in Ruandas Hauptstadt Kigali liegen hat. Über eintausend ruandische Namen stehen dort: Namen von flüchtigen, mutmaßlichen Völkermördern. Sie sind nach Ländern sortiert, in welchen sich die Gesuchten vermutlich aufhalten, darunter Frankreich, Belgien und auch Deutschland.

"Wir suchen immer noch nach über eintausend Tätern - und zwar weltweit", erklärt Siboyintore. Immerhin, so betont er stolz: "Wir können Erfolge nachweisen." Seit der Gründung seiner Abteilung im Jahr 2007 hat Siboyintore geholfen, insgesamt 1149 Anklagen in insgesamt 33 Ländern weltweit zu erheben, vor allem in Europa, Nordamerika und verschiedenen afrikanischen Staaten.

30 Angeklagte wurden insgesamt in den vergangenen Jahren nach Ruanda ausgeliefert, um sie in ihrer Heimat vor Gericht zu stellen, vor allem aus den Niederlanden, USA und Schweden. 29 weitere mutmaßliche Täter wurden in anderen Ländern vor Gericht gestellt, in Belgien, Frankreich, Finnland, Schweden sowie in Deutschland. Immerhin: "All die sogenannten großen Fische, die den Völkermord mit geplant haben, sind mittlerweile hinter Gittern", zeigt sich der Staatsanwalt zufrieden.

Quelle: ntv.de

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