Sanktionen gegen Moskaus Militär "Russland kann diesen Krieg noch drei Jahre weiterführen"
11.02.2024, 12:49 Uhr Artikel anhören
Bei der Produktion von Panzern zehrt Russland noch immer von der Rüstungsindustrie, die in der Sowjetunion aufgebaut wurde.
(Foto: picture alliance/dpa/Russian Defence Ministry)
Mit ihrem 13. Sanktionspaket gegen Russland nimmt die Europäische Union erneut den russischen Verteidigungsapparat ins Visier. Zwar könne Moskau mit seiner Kriegswirtschaft weiter Waffen produzieren, dennoch leide die Herstellung unter den Embargos, sagt Experte Michael Rochlitz im Interview. Rochlitz ist Professor für die Volkswirtschaften Russlands, Osteuropas und Eurasiens am St. Antony's College der Universität Oxford.
ntv.de: Die Sanktionen der Europäischen Union zielen seit Beginn der Invasion in die Ukraine darauf ab, Russlands Verteidigungsindustrie zu schädigen. Hat das geklappt?
Michael Rochlitz: Zum einen hatten die Sanktionen das Ziel, der russischen Rüstungsindustrie die Aufrüstung und Waffenproduktion zu erschweren. Das hat funktioniert. Zum anderen gab es die Hoffnung, dass sich unter den russischen Oligarchen eine Opposition gegen Präsident Wladimir Putin bildet, da die EU fast 2000 Leute sanktioniert hat. Sie dürfen nicht einreisen. Ihre Gelder im Ausland wurden blockiert. Die Hoffnung war, dass diese Leute sich gegen Putin stellen, weil sie durch die Sanktionen direkt darunter leiden, dass der Krieg geführt wird. Aber das hat nicht funktioniert.

Michael Rochlitz ist Professor für die Volkswirtschaften Russlands, Osteuropas und Eurasiens am St. Antony's College der Universität Oxford.
Warum hat sich die Hoffnung, dass sich in Russland eine Opposition aufbaut, zerschlagen?
Putin hat durch seine Geheim- und Sicherheitsdienste die Kontrolle über alle anderen politischen und wirtschaftlichen Akteure im Land. Unternehmer und Oligarchen sind aufgespalten und atomisiert. Es gibt keine Vereine, Verbände oder Gewerkschaften, die unabhängig vom Kreml agieren und in denen sie sich organisieren können, um Druck auf die Politik auszuüben. Obwohl viele von ihnen stark unter den Sanktionen leiden, weil ihnen der gesamte europäische Markt weggebrochen ist. Für die zivile russische Wirtschaft ist das eine Katastrophe.
Trotzdem erlaubt die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft Russland, weiterhin in großem Umfang Waffen herzustellen. Inwiefern haben die Sanktionen gegen die Rüstungsindustrie denn funktioniert?
Der Krieg ist zu einer großen Materialschlacht geworden. Russland hat noch eine große Rüstungsindustrie aus Sowjetzeiten, setzt diese auch ein und baut sie aus. Es werden mittlerweile im großen Umfang Militärgüter produziert, die oft gleich wieder in der Ukraine zerstört werden, und neu produziert werden müssen. Allerdings werden zurzeit hauptsächlich Waffen aus den 60er- und 70er-Jahren hergestellt, die auf sowjetischer Technologie beruhen. Dazu braucht man keine Hochtechnologiegüter aus dem Ausland. Russland hatte zwar versucht, sein Militär in den letzten zehn Jahren zu modernisieren. So hat Putin immer wieder neue Waffen vorgestellt, wie zum Beispiel Überschallraketen oder den Kampfpanzer T-14 Armata. Dieser kommt jedoch in der Ukraine praktisch nicht zum Einsatz, weil Russland für die Produktion westliche Bauteile braucht, die nicht mehr kommen. Es ist zwar nicht unmöglich, diese Bauteile einzukaufen. Für Russland ist der Import durch die Sanktionen aber schwieriger geworden. Das klappt nur auf komplizierten Wegen über Drittländer, zu hohen Preisen und in kleinen Mengen.
Russland umgeht also EU-Sanktionen. Das Land kommt noch immer an westliche Ersatzteile für Waffen. Der Handel gelingt über ein undurchsichtiges Geflecht an Tochterfirmen in Ländern wie der Türkei, Kasachstan, Kirgistan und Armenien. Können solche Sanktionslöcher gestopft werden?
Es gab im Dezember 2023 eine Verschärfung der Sanktionen, um den Weiterexport von Technologiegütern aus Drittländern nach Russland zu unterbinden. Falls kritische Hochleistungstechnologie aus dem Westen in Russland ankommt, können Firmen belangt werden, die diese Technologie hergestellt und an Firmen zum Beispiel in Kasachstan verkauft haben. In der EU versucht man zu verstehen, wie effektiv die Sanktionen bisher sind, wie sie umgangen werden, und justiert dann mit jedem neuen Sanktionspaket nach. Das Ganze ist ein langfristiger und iterativer Prozess.
Die EU bastelt mittlerweile an ihrem dreizehnten Sanktionspaket. Die Pläne sehen vor, dass Unternehmen bestraft werden, die zur militärischen und technologischen Stärkung Russlands oder zur Entwicklung seines Verteidigungs- und Sicherheitssektors beitragen. Warum fallen diese Firmen nicht schon längst unter Sanktionen?
Das ist komplizierter als gedacht. Man könnte denken: Sanktionieren wir doch einfach alle Betriebe, die Militärgüter liefern. Allerdings gibt es viele sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl im Militär- als auch im zivilen Bereich eingesetzt werden können. Da ist es schwer, die Trennlinie zu ziehen. Die EU versucht, die Landwirtschaft sowie den Konsumgüter- und pharmazeutischen Bereich nicht zu sanktionieren, um die russische Bevölkerung zu schonen. Gleichzeitig versucht man, die Rüstungsindustrie so gut wie möglich zu treffen. Allerdings können viele Güter hier und da eingesetzt werden. Mittlerweile sind die Sanktionspakete wirklich komplex. Firmen beschäftigen ganze Abteilungen, um sich da einzuarbeiten und zu verstehen, was man noch exportieren kann und was nicht.
Welche Waffen kann Russland wegen der Sanktionen nicht mehr bauen?
Überschallraketen werden nur noch in geringen Mengen hergestellt, diese werden nun aus Nordkorea importiert. Auch beim Panzer T-14 Armata gab es immer wieder Probleme. Der ist schon vor Jahren bei einer Parade auf dem Roten Platz stehen geblieben. Russland braucht aber gerade gar keine absoluten Hightech-Waffen, die präzise über weite Entfernungen treffen. Was das Land braucht, sind große Mengen an Munition. Jeden Tag werden in einem Trommelfeuer Tausende von Granaten verschossen. Dafür benötigt Russland nicht die teuersten Granaten. Auch die Drohnen, die aus dem Iran geliefert werden, sind billig. Die Idee ist, billige Drohnen auf die Ukraine zu schießen, damit die Ukraine ihre teuren Anti-Drohnen-Raketen verwenden muss. Das Problem ist, dass die Verteidigungswaffen hier teurer als die Angriffswaffen sind.
Also setzt Putin taktisch auf Verschleiß und seine Strategie geht auf?
Genau. Russland kann diesen Krieg noch mindestens zwei oder drei Jahre weiterführen. Dieses Jahr gehen 30 Prozent des russischen Haushalts direkt in die Verteidigung. Weitere zehn Prozent werden in den Sicherheitssektor investiert, also in die Polizei, die Sicherheits- und Geheimdienste. Im Vergleich zu westlichen Ländern sind diese Investitionen enorm. In Deutschland fließt momentan knapp nur 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung. Das Ziel der NATO, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, schaffen die meisten westlichen Staaten nicht. Russland setzt aber sechs Prozent seiner Wirtschaftsleistung ein, um diesen Krieg zu führen. Die Ukraine ist angewiesen auf die Unterstützung ihrer europäischen Partner, die aber ein viel kleineres Verteidigungsbudget als Russland haben. Und aus diesen Budgets fließt das meiste Geld in den Unterhalt der eigenen Armeen, und nur wenig wird direkt der Ukraine zur Verfügung gestellt.
Aber die Umstellung auf Kriegswirtschaft hat auch negative Folgen für Russland, oder?
Eine Folge ist der Wiederaufbau des militärisch-industriellen Komplexes in Russland. Die Sowjetunion ist zum Schluss genau daran gescheitert. Sie hat Ministerien aufgebläht, tausende administrative Jobs geschaffen. Es gab viele Menschen, die davon abhingen, dass die Kriegsindustrie weiterläuft. Diese Lobbygruppen werden jetzt wieder aufgebaut, durch die massive Förderung der Kriegsindustrie. Wenn der Krieg vorbei ist, haben diese Menschen Angst, arbeitslos zu werden. Sie werden sich gegen ein Kriegsende sträuben. Deswegen ist ein Wirtschaftswachstum, das auf Krieg aufbaut, nicht nachhaltig. Die Russen bauen Waffen, die in der Ukraine zerstört werden, um dann neue Waffen zu bauen. Jede potenzielle Granate, die hergestellt werden muss, wird zwar erst einmal positiv zum Wirtschaftswachstum gezählt. Aber das sind keine Zukunftsinvestitionen. Diese Wirtschaft bricht zusammen, wenn der Krieg beendet wird.
Mit Michael Rochlitz sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de