Wüstenstadt wächst zu langsam Saudis dampfen ihre "Vision 2030" ein
14.04.2024, 16:00 Uhr Artikel anhören
Animation von "The Line", einer 170 Kilometer langen Planstadt in Saudi-Arabien.
(Foto: picture alliance / abaca)
Das Mammut-Bauvorhaben "The Line" wird offenbar erheblich eingedampft. Die Stadt in der Wüste von Saudi-Arabien und Vorzeigeprojekt der "Vision 2030" wächst zu langsam. Laut "Bloomberg" sollen hier 2030 nur ein Fünftel der ursprünglich geplanten 1,5 Millionen Menschen leben.
Eine schnurgerade Stadt, 170 Kilometer lang, durch die Wüste bis zum Roten Meer, umgeben von einer 500 Meter hohen verspiegelten Mauer, überlagert von einem 200 Meter breiten und begrünten Dach. Das sind die Eckdaten der gigantischen Planstadt "The Line". Sie ist das ambitionierteste Projekt der "Vision 2030" des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Schon Anfang des nächsten Jahrzehnts sollte der erste Abschnitt des riesigen Bauprojekts fertig sein und 1,5 Millionen Menschen ein Zuhause bieten. Perspektivisch sollten sogar 9 Millionen Menschen in der schnurgeraden Stadt wohnen.
So war der Plan, als das Vorhaben Anfang 2021 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Schon wenige Monate später begannen die Bauarbeiten. Saudi-Arabien meinte es ernst mit dem verrückt anmutenden Projekt - so schien es jedenfalls. Mittlerweile sieht es so aus, als hätte sich das reiche Öl-Königreich mit den großen Plänen übernommen. Wie das Wirtschaftsportal "Bloomberg" unter Berufung auf anonyme Quellen berichtet, soll das Bauprojekt deutlich eindampft werden: Statt 1,5 Millionen Einwohnern wird zum Start in den 30er-Jahren mit weniger als 300.000 Menschen in "The Line" gerechnet, nur ein Fünftel der ursprünglichen Größenordnung.
Für den Saudi-Arabien-Experten Sebastian Sons vom Forschungsinstitut Carpo wäre das - sollte sich der Bericht bewahrheiten - keine Überraschung. "Das ist bei saudischen Projekten gar nicht so unüblich, dass man erstmal mit sehr großen, ambitionierten Zielen beginnt und das Ganze danach der Realität anpasst." Kronprinz bin Salman sei es darum gegangen, Aufmerksamkeit zu erregen und auf diesem Weg die Attraktivität Saudi-Arabiens als Wirtschaftsstandort zu erhöhen. "In den letzten Monaten habe ich mit einigen Leuten in Saudi-Arabien gesprochen, die gesagt haben: 'Selbst, wenn nur 20 oder 30 Prozent der Projekte realisiert werden, ist das ein Meilenstein in der Entwicklung unseres Landes'", berichtet Sons im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Der Nahost-Kenner ist überzeugt, dass ein deutliches Einstampfen von "The Line" für viele Saudis gar keine große Überraschung wäre. "Ich glaube auch, dass es die meisten gar nicht großartig interessiert."
Silicon Valley des Nahen Ostens?
Von vornherein war klar, dass "The Line" in einzelnen Bauabschnitten fertiggestellt werden soll. Allerdings haben die Saudis offenbar die Größe und die Dauer der einzelnen Projektphasen deutlich unterschätzt. Deshalb sind gemäß der aktualisierten Planungen 2030 nur die ersten 2,4 von geplanten 170 Kilometern fertig - "The Line" wächst in den kommenden Jahren schlicht und einfach zu langsam, um dort in 6 Jahren 1,5 Millionen Menschen unterzubringen. Laut "Bloomberg" hat mindestens eine der beteiligten Baufirmen bereits damit begonnen, Bauarbeiter zu entlassen.
Vertreter des saudischen Staatsfonds, aus dem das Riesenprojekt finanziert wird, lehnten eine Stellungnahme ab. Auch Vertreter des Bauprojekts wollten sich nicht äußern. Einzig Finanzminister Mohammed al-Dschadan ließ im vergangenen Dezember bereits durchblicken, dass die "Vision 2030" nicht bis 2030 realisiert werden könne. "Es wird ein längerer Zeitraum benötigt, um Fabriken zu bauen und ausreichende Humanressourcen aufzubauen", hat al-Dschadan kommentiert.
"The Line" ist eingebettet in das Mammutvorhaben "Neom". Dazu zählen mehrere Bauvorhaben, neben der schnurgeraden Stadt auch noch den Hafen- und Industriestandort "Oxagon" sowie zwei Luxus-Ferienresorts, "Sindalah" im Meer und "Trojena" in den Bergen. Hier sollen 2029 die asiatischen Winterspiele ausgerichtet werden. Die Zusage hat Saudi-Arabien vom Olympischen Rat Asiens bereits erhalten.
"'Neom' soll irgendwann zu einer Art Silicon Valley im Nahen Osten werden. Auf diesem Weg sollen brillante Köpfe angelockt werden, die dort Möglichkeiten haben, die sie in Europa oder in den USA nicht mehr haben", schildert Sons die ambitionierten Pläne Saudi-Arabiens. Mit "Neom" könne ein "Staat im Staat" entstehen, wo die strengen Gesetze des erzkonservativen islamischen Königsreichs zum Teil außer Kraft gesetzt und selbst Alkohol erlaubt werden könnte.
"Goldgräberstimmung" bei westlichen Firmen
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Auch viele westliche Unternehmen mischen bei dem riesigen Siedlungsprojekt mit, deutsche Firmen sind auch beteiligt. Eine Thyssen-Krupp-Tochterfirma unterstützt beim Bau einer Fabrik für grünen Wasserstoff. Die Münchner Bauer AG treibt Großbohrpfähle in den Wüstensand. Volocopter aus Baden-Württemberg will Flugtaxis bereitstellen. Siemens hofft darauf, den Zuschlag für den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen und Metros zu bekommen. Sebastian Sons spricht von "Goldgräberstimmung". Architekten und Ingenieure könnten sich austoben, hätten "andere Möglichkeiten als im verkrusteten und bürokratisierten Europa".
Gleichzeitig gibt es auch einige Kritik an dem Projekt. Umweltaktivisten kritisieren die Vertreibungen von Wüstenstämmen aus ihren Dörfern, die Störung der Flugrouten von Wüstenvögeln und den enormen CO2-Ausstoß des Bauprojekts. Menschenrechtler bemängeln unzureichende Bedingungen für die Bauarbeiter, wie bei der Fußball-WM 2022 in Katar.
Das saudische Königshaus will sich davon jedoch nicht beirren lassen, pocht darauf, eine grüne Stadt in der Wüste zu errichten, CO2-neutral, ohne Autos, die Energieversorgung soll komplett über Windkraft- und Solaranlagen gewährleistet werden. Saudi-Arabien will sich mit der "Vision 2030" für die Zeit nach dem Öl rüsten.
Deutlich weniger Öleinnahmen
Doch reicht das Geld für die ambitionierten Pläne? Bislang schien das Finanzielle für Saudi-Arabien nie ein Hindernis zu sein - der Staatsfonds ist mit 600 Milliarden US-Dollar rappelvoll. Bis 2030 soll der Public Investment Fund (PIF) sogar auf zwei Billionen Dollar anwachsen. Zuletzt berichtete jedoch das Wall Street Journal, dass Saudi-Arabien Kredite aufnehmen musste und Aktien des staatlichen Ölkonzerns Saudi Aramco verkaufen will. Dieser hat im vergangenen Jahr fast 25 Prozent weniger Gewinn gemacht als 2022.
Die Kernaussage: Selbst im Wüstenkönigreich sitzt das Geld in diesen Zeiten nicht mehr ganz so locker. "Bloomberg" berichtet zudem, dass der Staatsfonds das Budget von "Neom" für das laufende Jahr noch gar nicht genehmigt hat. Insgesamt soll das Bauvorhaben 1,5 Billionen US-Dollar verschlingen, allein die Kosten für "The Line" liegen Schätzungen zufolge bei bis zu einer Billion Dollar. Die Berichte seien "kein Alarmsignal, aber auch nicht vollkommen unerheblich", analysiert Sons im Podcast. "Saudi-Arabien schaut genau hin, wie sich die Einnahmesituation in Zukunft gestaltet. Momentan sieht es wegen des Öls noch relativ gut aus, aber man darf nicht vergessen, dass mittelfristig der Gazakrieg und die Anschläge der Huthis im Roten Meer die Einnahmesituation beeinträchtigen werden."
"Neom" sei ein "Projekt mit vielen Unwägbarkeiten", analysiert Sons. Dafür gebe es in Saudi-Arabien durchaus auch ein "Problembewusstsein". Aus diesem Grund hält es der Nahost-Wissenschaftler für möglich, dass das Königshaus die Pläne - zumindest für "The Line" - tatsächlich deutlich zurückschraubt. Weil man erkannt hat, dass man neben den großen Leuchtturmprojekten "die ganzheitliche Entwicklung des Landes" in den Blick nehmen muss. So oder so ähnlich dürfte Riad die abgespeckten Pläne begründen, ist Sons überzeugt.
Langfristig will Saudi-Arabien laut des "Bloomberg"-Berichts aber trotz der Verzögerungen an den großen Plänen festhalten. Nur sieht es stark danach aus, als dauere es viel länger als geplant. 2045 sollte "The Line" komplett fertig sein und auf 170 Kilometern 9 Millionen Menschen beherbergen. Damit wäre die "Vision 2030" final umgesetzt - ob das die letzte Verzögerung bleibt, ist aber mehr denn je fraglich.
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Quelle: ntv.de