Autobiografie ist großer Wurf Schäuble setzt sich das Denkmal, das er verdient
 08.04.2024, 09:47 Uhr
					       
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		                      Wolfgang Schäuble beendete die Arbeit an seiner Autobiografie kurz vor seinem Tod am 26. Dezember 2023.
(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa/Archivb)
Das Leben von Wolfgang Schäuble beeindruckt. Sei es als Vertrauter Kohls, als Merkels wichtigster Minister und nicht zuletzt als jemand, der Schicksalsschläge wie Lähmung und Krebs überwand. Seine Memoiren sind unbedingt lesenswert - nicht nur wegen der darin enthaltenen Enthüllungen.
Das politische Leben von Wolfgang Schäuble zu beschreiben, ist allein schon deswegen schwierig, weil es so lang war. Unfassbare 51 Jahre gehörte der CDU-Politiker dem Bundestag an - doch dieser Rekord ist letztlich nur eine Fußnote in dieser einmaligen Karriere. Wie gut, dass Schäuble es schaffte, die Arbeit an seiner Autobiografie noch kurz vor seinem Tod am 26. Dezember 2023 abzuschließen. An diesem Montag erscheint das gut 650 Seiten starke Werk - Titel: "Erinnerungen. Mein Leben in der Politik".
Schon vergangene Woche machte der "Stern" mit Vorab-Auszügen Schlagzeilen. Darin war dann schon das zu lesen, was so oder so ausdrücklich noch nicht bekannt war - etwa, dass der einstige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber Schäuble 2015 dazu drängte, Kanzlerin Angela Merkel zu stürzen und selbst Bundeskanzler zu werden - was Schäuble ablehnte.
So etwas ist spannend, doch wer glaubt, damit die Essenz des Buches mitbekommen zu haben, liegt daneben. Schäubles Memoiren gehen weit über solche Enthüllungen hinaus. Sie sind ein großer Wurf, ein Stück Geschichtsschreibung der alten und der neuen Bundesrepublik, gespickt mit Einsichten eines Politikers, der immer bemüht war, Verständnis für die andere Seite aufzubringen. Insbesondere für SPD und Grüne - so äußert er sich respektvoll über Helmut Schmidt, aber auch Oskar Lafontaine und Joschka Fischer und lässt zugleich immer wieder Kritik an der FDP aufblitzen - insbesondere an jener FDP der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013.
Kein Unvollendeter
Aber das ist fast schon eine Randnotiz in den großen Kapiteln. Da geht es um die Wiedervereinigung, Gespräche mit Erich Honecker, um Intrigen von Helmut Kohl während der Spendenaffäre, in dessen Zuge Schäuble als CDU-Chef zurücktreten musste. Dann sein Comeback als Innenminister unter Angela Merkel und schließlich die Euro-Rettung, die Griechenland-Krisen, während derer man ihn förmlich mit den Augen rollen spürt, wenn er die Auftritte seines damaligen griechischen Kollegen Yanis Varoufakis beschreibt. Nicht zuletzt wäre der erste Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung seit 1969 zu erwähnen, Stichwort Schwarze Null. Und das war jetzt auch nur ein Ausschnitt aus der Bandbreite.
Dass Schäuble so eine Art CDU-Supertalent war, führte natürlich zu der unweigerlichen Frage, ob er nicht selbst auch Bundeskanzler werden würde. Lange galt er als Kronprinz Kohls und als CDU-Chef war er prädestiniert für die Kanzlerkandidatur. Die Spendenaffäre seiner Partei wurde zum Karriereknick, zuvor blockierte ihn aber schon Kohls Weigerung aufzuhören - erst dessen Niederlage gegen Gerhard Schröder 1998 besiegelte sein Ende. Doch Schäuble will gar nichts davon wissen, ein "Unvollendeter" zu sein, dessen größter Traum nicht in Erfüllung gegangen sei.
Ein ums andere Mal betont er in seinem Buch, dass er nie besonders versessen aufs Kanzleramt gewesen sei. "Ich halte daran fest: Die Frage, ob ich Kanzler werde oder nicht, hat mich nicht so sehr umgetrieben", schreibt er beispielsweise. "Überhaupt gehen mir bis heute Unterstellungen auf die Nerven, dass ich vor allem meine Karriere geplant und alles auf die Kanzlerschaft ausgerichtet hätte. So war es nicht." Er zitiert auch Gerhard Schröder, der darüber gesagt habe: Das Wichtigste sei: Man müsse es unbedingt wollen. "Damit hat er recht. Unbedingt habe ich es nie gewollt." Am Schluss des Buches macht er sich darüber milde lustig: "Auf das permanente Vorhalten, was ich im Leben nicht geworden bin, habe ich schon vor zehn Jahren trotzig bemerkt: Stimmt, nicht mal Papst. Aber ich hatte das Glück, über fünf Jahrzehnte, die Geschicke unseres Landes mitbestimmen zu können."
Fünf Jahrzehnte. Von 1972 bis 2023 - wie soll man so eine Zeit zwischen zwei Buchdeckel bringen? Der einstige CDU-Chef, Kanzleramts-, Innen- und Finanzminister und Bundestagspräsident geht dabei auf die einfachste Art vor: chronologisch. So erzählt er von seiner Jugend im badischen Hornberg, von den Anfängen in der Politik, als Student in Freiburg - und seiner Begeisterung für den Fußball. Das Buch beginnt mit Erinnerungen an den WM-Sieg von 1954 und bewundernden Worten für Fritz Walter. Fast ebenso schwärmerisch äußert er sich über die Europameister von 1972 um Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Die WM-Helden von 1990 und 2014 scheinen es ihm dagegen weniger angetan zu haben.
Das Attentat teilt sein Leben in zwei Hälften
Und trotz aller Chronologie gibt es natürlich ein Datum, das hervorragt und sein Leben in zwei Hälften teilt: das Attentat am 12. Oktober 1990. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Oppenau im Regierungsbezirk Freiburg schießt ein geistig verwirrter Mann dreimal auf den damaligen Innenminister. Schäuble überlebt auch deshalb, weil sein Leibwächter die dritte Kugel mit dem eigenen Körper abfängt. Doch er bleibt querschnittsgelähmt zurück und muss von da an im Rollstuhl sitzen. Der Mordversuch erfolgte nur anderthalb Wochen nach der deutschen Wiedervereinigung, die Schäuble in Berlin miterlebte - und zuvor als Innenminister mitgestaltet hatte. Mit dem ostdeutschen Verhandlungsführer Günther Krause handelte er den Vertrag aus, mit dem der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geregelt wurde.
"Zwischen diesen beiden Momenten, der rauschenden Nacht vor dem Reichstag und dem Attentat in meinem Wahlkreis, zwischen diesen Hoch- und Tiefpunkten meines Lebens, lagen gerade einmal neun Tage. Neun Tage! So nahe sind sich manchmal himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Das ist die prägendste Erfahrung, die ich in meinem Leben gemacht habe. 1990 wurde dadurch politisch wie privat zum zentralen Jahr meiner Biografie, die seitdem ein Davor und ein Danach kennt."
Schäuble kämpfte sich zurück und achtete darauf, den Rollstuhl nicht in den Vordergrund zu rücken - zum Beispiel dadurch, dass er bei Reden im Bundestag immer schon losfuhr, bevor sein Vorredner zum Ende kam. Damit man ihn nicht gefühlt endlos heranrollen sah und ihn damit vor allem als Rollstuhlfahrer wahrnahm. Auch so gelang es Schäuble immer, Schäuble zu bleiben und nicht "der Mann im Rollstuhl" zu sein. Doch er beschreibt auch, wie schwer das war - so entließ er sich mehrmals selbst aus dem Krankenhaus, um an wichtigen Sitzungen teilzunehmen. Nachdem er 2005 Innenminister geworden war, wurde außerdem Prostatakrebs bei ihm festgestellt.
Dabei zeichnet er das Bild des sich aufopfernden Staatsdieners. Insbesondere das Jahr 2010 beschreibt er als "annus horribilis", als Schreckensjahr, in dem er dreimal operiert wurde. Ein Arzt habe ihm später gesagt, er habe nicht damit gerechnet, dass Schäuble Weihnachten noch erleben würde. Das war auch das Jahr, an dessen Ende er seinen Pressesprecher vor Journalisten abkanzelte - ein Video davon ging viral. "Es war für mich der Abschluss eines lausigen Jahres, das ich so schnell wie möglich hinter mir lassen wollte." Aber er lässt auch durchblicken, dass ihm die Politik selbst eine Stütze war. Dass sie ihm wiederum Kraft gab und er froh und erleichtert war, dass er sie nicht aufgeben musste.
Kohl kommt nicht gut weg
Besonders spannend sind Schäubles Aussagen über Helmut Kohl und Angela Merkel. Beide haben gemeinsam, dass sie 16 Jahre lang regierten und, wie Schäuble anmerkt, ebenso, dass sie sich zum Ende ihrer Amtszeiten nicht mehr für Finanzen und stattdessen für Außenpolitik interessierten. Als Kanzleramtsminister unter Kohl "hielt er den Laden zusammen". "Der Grundsatz, der mich dabei leitete, lässt sich nicht auf eine scharfe Formel bringen. Ich habe es stets so erklärt: Ich orientiere mich daran, was der Kanzler wollen könnte, wenn er es richtig verstehen oder sich ausführlich damit beschäftigen würde." Kohl sei an Details wenig interessiert gewesen und habe ihm viel Freiraum gelassen, schreibt Schäuble.
Mitunter wirkt er da wie der Schattenkanzler, während sich Kohl Intrigen für den Machterhalt widmet. Insbesondere bei der Beschreibung der Vor-Wende-Zeit erscheint Schäuble da selbst wie der zentrale Mann - die Rollen von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Kohl selbst rücken weit in den Hintergrund. Das ist dann bei allem Respekt für die Leistungen Schäubles wohl doch etwas schief. Dass der Altkanzler nicht besonders gut bei ihm wegkommt, könnte auch damit zu tun haben, dass beide im Streit auseinandergingen. Kohl versuchte Schäuble - laut Schäuble - während der Spendenaffäre mit in den Abgrund zu reißen. In diesem Zusammenhang äußert dieser sich selbstkritisch. Er habe sich zwar nichts zuschulden kommen lassen, aber vieles über Kohls schwarze Kassen lange auch nicht so genau wissen wollen.
Immerhin, es sei ein "Glücksfall" gewesen, dass er Angela Merkel zur Generalsekretärin berufen habe, wie er schreibt. Auch ihre Kanzlerschaft bewertet er ausführlich. Dabei ist der Tonfall im Vergleich zu Kohl aber ein ganz anderer - er ist zwar kritisch, aber respektvoll. Die beiden lagen oft über Kreuz, sei es bei der Griechenland-Frage oder einige Jahre später während der Migrationskrise. Doch Schäubles Urteil ist auch in der Flüchtlingsfrage differenziert - manches fand er richtig, zum Beispiel das Offenhalten der Grenzen für die Flüchtlinge in Ungarn mitsamt dem Satz: "Wir schaffen das" - an anderer Stelle und später hätte er sich mehr Führung gewünscht.
In den letzten Jahren seiner Amtszeit als Finanzminister habe er mehrfach überlegt, vorzeitig zurückzutreten - doch habe er seine Karriere so nicht beenden wollen. So bleibt hängen, dass Schäuble keineswegs ein Merkel-Gegenspieler war. Seine Selbstbeschreibung wirkt glaubwürdig: Er war kritisch, wagte mitunter Alleingänge, blieb aber immer loyal. Nicht zuletzt drängte ihn Merkel selbst immer wieder dazu, weiterzumachen.
Wenig Privates
Aber auch da drängt sich hier und da der Wunsch nach einer zweiten Meinung auf - so schreibt Schäuble, er habe 2018 den schweren Streit zwischen Seehofer und Merkel, bei dem zeitweise die Fraktionsgemeinschaft von CSU und CDU mitsamt der ganzen Regierung auf dem Spiel stand, durch ein klärendes Gespräch entschärft. Ob das nun wirklich der einzige Grund war, sei dahingestellt. Schäuble wäre nicht der erste Politiker, der sein Handeln in seiner Biografie besonders freundlich darstellt. Das macht das Buch aber nicht weniger lesenswert. Zumal diese Tendenz selten hervortritt und andererseits immer mal wieder Selbstkritik aufscheint. So räumt er ein, sich zu lange Illusionen über den russischen Präsidenten Wladimir Putin gemacht zu haben - trotz aller Warnungen.
Über sich selbst gibt Schäuble nicht besonders viel preis. Er erwähnt seine vier Kinder und seine Frau nur am Rande, auch wenn er sich mehrfach bei ihr entschuldigt für die Entbehrungen der vergangenen Jahrzehnte. Dafür erfährt man, dass er mit Kolleginnen und Kollegen offenbar regelmäßig um eine Flasche Wein wettete - und mal gewann, mal verlor.
In diesem Buch ging es Schäuble um sein politisches Vermächtnis. Das ist mitunter eher für detailversessene Historiker spannend, manchmal auch staubtrocken, etwa wenn er sich den Hebesätzen in den Kommunalfinanzen widmet. Aber man kommt dem Politiker Schäuble näher. Er nimmt die Leserschaft mit auf die Reise durch sein Leben, die weitgehend deckungsgleich mit der Nachkriegsgeschichte ist. Und er gibt Einblicke in seine politische DNA. Zum Beispiel als er einen Satz aus Lessing "Nathan, der Weise" zitiert, der bei einer Holocaust-Gedenkveranstaltung Ende der 80er Jahre in Ost-Berlin fällt. Er beschreibt den Pragmatiker, der Schäuble war, dem die Tat stets wichtiger war als das große Wort: "Begreife, wie viel einfacher andächtig schwärmen als gut handeln ist - dieser Satz lässt mich seit dem Abend des 9. November 1988 nicht mehr los. Er ist der Schlüssel zu meinem Politikverständnis."
Quelle: ntv.de
 
   
   
   
  
 
   
   
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                            