"Public Hearing" vor dem Bundestag So erleben Armenier die Völkermord-Debatte
02.06.2016, 17:59 Uhr
Über einen Lautsprecher kann Anna Hanesyan aus Hannover hören, was im Bundestag gesagt wird. Sie ist mit ihrer Familie nach Berlin gekommen, um diesen "entscheidenden Moment" auf dem Platz der Republik erleben zu können.
(Foto: Issio Ehrich)
Der Zorn Ankaras reicht bis zum Platz der Republik in Berlin. Doch Armenier, Pontosgriechen und Kurden lassen es sich nicht vermiesen, die Völkermord-Resolution zu feiern. Auf die Stimmung schlägt die Abstinenz der Kanzlerin.
Eine Gegenstimme, eine Enthaltung. Als das Ergebnis der Abstimmung über die Armenien-Resolution aus dem Lautsprecher vor dem Bundestag dröhnt, ist Anna Hanesyan für einen Moment sehr leise. Als würde sie nur mit sich selbst sprechen, sagt sie: "Danke, Deutschland". Erst dann schließt sich die Deutsche mit armenischen Wurzeln der Menschentraube aus tanzenden, lachenden oder vor Rührung weinenden Menschen auf dem Platz der Republik in Berlin an.

Nachdem der Bundestag seine Resolution beschlossen hat, bricht Jubel vor dem Reichstag aus. Nicht nur Armenier, Vertreter mehrerer Minderheiten fangen an zu tanzen.
(Foto: Issio Ehrich)
Hanesyan ist mit ihrer Familie aus Hannover gekommen, um diesen "entscheidenden Moment" zu erleben. Der Bundestag hat die Morde und Vertreibungen von Hunderttausenden Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im zerfallenen Osmanischen Reich mit breiter Mehrheit als Völkermord eingestuft. Mehr als 100 Jahre nach dem, was Armenier als "Aghet", die "Große Katastrophe" bezeichnen.
Vor dem Bundestag haben sich nach Polizeiangaben zwischen 150 und 250 Leute versammelt. Es ist ein eher improvisiertes Public-Hearing-Event. Ein Lautsprecher und ein Smartphone, das den Livestream aus dem Parlament überträgt, müssen für die Beschallung reichen.
Gespaltene Gefühle
Hanesyan ist vor allem euphorisch, aber auch ein wenig nachdenklich. Sie ist CDU-Mitglied. Sie freut sich, dass ihre Parteikollegen im Bundestag die Resolution mitgetragen haben. Doch dass ausgerechnet ihre Kanzlerin und mit ihr die Spitze der Bundesregierung nicht während der Debatte und Abstimmung im Bundestag dabei waren, kann sie schwer verstehen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Regierungschefin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier die ohnehin schon großen diplomatischen Verwerfungen zwischen Berlin und Ankara nicht weiter vergrößern wollen. Für die Versöhnung zwischen Türken und Armeniern sei eine Konfrontation nicht dienlich, so das Argumentationsmuster.

Ninve Ermagan sagt: "Unsere Bundesregierung muss standhaft bleiben und zeigen, dass sie nicht erpressbar ist." Auf ihr Gesicht hat sich die 17-Jährige "I died 1915" geschrieben, "Ich bin 1915 gestorben".
(Foto: Issio Ehrich)
Hanesyan ist das zu pragmatisch: "Ich will auch, dass es meinen Kindern gut geht", sagt sie. "Diplomatie ist wichtig. Aber zu viel Rücksicht schadet auch. Moral soll immer an erster Stelle stehen." Dann geht sie wieder zu den erfreulicheren Dingen über. "Das ist nicht nur ein entscheidender Moment für die Armenier, sondern für alle Minderheiten, für alle Menschen auf der Welt", sagt Hanesyan. "Es ist wichtig, dass Verbrecher wissen, dass ihre Taten nie vergessen werden."
Die kleine Versammlung vor dem Bundestag scheint Hanesyan Recht zu geben. Dort steht zwar nicht der Querschnitt der Gesellschaft, doch es sind diverse Vertreter verschiedenster Minderheiten in der Türkei da – und Gruppen, die mit ihnen verbunden sind. Vor dem Reichstag schwenken zum Beispiel Pontosgriechen, die im Zusammenhang mit dem Völkermord meist nur in der Kategorie "andere christliche Minderheiten" genannt werden, ihre Fahne. Auch Flaggen der kurdischen Partei HDP sind zu sehen, sogar das Emblem der PYD, die Partei der Kurden in Syrien, die der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe steht. Unter den Fahnenträgern sind CDU-Anhänger wie Hanesyan, aber auch junge Männer und Frauen, die sich die "Zerschlagung der Herrschaft der Bourgeoisie" wünschen, um für echte Aussöhnung sorgen zu können.
Entsprechend dieser Bandbreite erntet auch praktisch jeder Redner, der über den kleinen Lautsprecher zu hören ist, mindestens einen Anstandsapplaus, wenn der Begriff Völkermord fällt, ein paar Worte auf Armenisch ertönen oder auf die deutsche Beteiligung an dem Genozid angespielt wird. Parteizugehörigkeit ist hier nachrangig.
Hoffen auf Einsicht der "Erdogan-Jünger"
Für den einzigen Aufreger des kleinen Public-Hearings sorgt denn auch jemand, den die Mitbegründerin der HDP-Plattform Mehtap Erol als "Erdogan-Jünger" bezeichnet. Erol zeigt auf einen Mann mit Kamera und roter Krawatte. "Der hat mich PKK-Schlampe genannt", sagt sie einem Polizisten und bittet ihn, ihre Anzeige aufzunehmen, wenn er sich nicht entschuldige.
Die Reaktionen Ankaras, aber auch vieler Türken in Deutschland, auf die Resolution sind mitunter heftig. Es gab diverse Demonstrationen und Kundgebungen in Berlin. Die Türkei rief kurz nach der Abstimmung im Parlament ihren Botschafter zurück.
Ninve Ermagan sagt: "Das ist doch wieder so wie bei Böhmermann." Die 17-Jährige hofft aber, dass die Anerkennung der Ereignisse der Jahre 1915 und 1916 als Völkermord die Menschen nachdenklicher macht. "Es gibt leider noch zu viele, die sich mit ihrer eigenen Geschichte nicht auskennen und nicht hinterfragen, was Erdogan ihnen erzählt."
An Kanzlerin Merkel hat sie vor allem eine Forderung: "Unsere Bundesregierung muss standhaft bleiben und zeigen, dass sie nicht erpressbar ist." Die Nachkommen der vertriebenen Armenier würden jetzt von Islamistischen Gruppen verfolgt. Und auch im Osten der Türkei gebe es wieder Vertreibungen. "Warum ist es so wichtig, die Sache beim Namen zu nennen?", fragt sie und antwortet dann selbst: "Weil sich die Geschichte sonst schnell wiederholt."
Quelle: ntv.de