Armenien-Resolution im Bundestag "Ich werde nicht umgebracht"
02.06.2016, 13:57 Uhr
Vertreter der armenischen Gemeinde in Deutschland reagierten im Bundestag auf das Ergebnis der Abstimmung.
(Foto: AP)
Der Bundestag beschließt eine Resolution, in der die Ermordung und Vertreibung der Armenier vor 100 Jahren als Völkermord bezeichnet wird. Mit einem Handschlag hat alles angefangen.
Nach der Abstimmung stehen Vertreter der armenischen Gemeinde in Deutschland auf und halten Schilder hoch. Erlaubt sind solche Demonstrationen auf der Besuchertribüne des Bundestags eigentlich nicht, doch die Armenier wollen sich bedanken. Das ist es auch, was auf ihren Schildern steht: "Danke!"
Unmittelbar zuvor hatte das Parlament eine Resolution verabschiedet, in der der Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als das bezeichnet wird, als das die weitaus meisten Historiker ihn längst bezeichnen: als Völkermord. Die Zustimmung kommt aus allen Fraktionen, nur eine Gegenstimme und eine Enthaltung gibt es. Dies sei eine "bemerkenswerte Mehrheit", sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Bemerkenswert ist auch die Geschichte der Resolution. Noch vor einem Jahr, anlässlich des Jahrestags des Völkermordes, hatte die Bundesregierung nicht den Mut, eine solche Resolution zuzulassen. Dass die Sache heute völlig anders aussieht, liegt vor allem an vier Männern.
Bundespräsident Joachim Gauck ignorierte die Bedenken der Bundesregierung, als er im April 2015 bei einem Gedenkgottesdienst in Berlin über den Völkermord sprach. Tags darauf sprach auch Lammert im Parlament ganz selbstverständlich von einem Völkermord. Als im Februar dieses Jahres Grünen-Chef Cem Özdemir das Thema erneut ins Parlament brachte, versprach Unionsfraktionschef Volker Kauder, dass es eine gemeinsame Resolution geben werde. Özdemir ließ sich dieses Versprechen per Handschlag bestätigen. Dafür, Özdemirs Hand angenommen zu haben, bedankt sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Pätzold bei seinem Fraktionsvorsitzenden; Pätzolds Mutter, so sagt er in seiner Rede, wurde in Armenien geboren.
Nicht Schuld, sondern Verantwortung
Es ist Özdemir, der an diesem Donnerstag im Bundestag die eindrucksvollste Rede hält. Wenn er "wir" sagt, meint er die Deutschen. "Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es geht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dass wir die moralische Hoheit beanspruchen." Es gehe eben auch um die Schuld des eigenen Landes.

Erst am Dienstag war der türkische Botschafter im Auswärtigen Amt - mit Fußballtrikot.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Das steht auch in der Resolution: "Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches" bei dem Völkermord. Deutschland war seinerzeit, im Ersten Weltkrieg, mit dem Osmanischen Reich verbündet; die Reichsregierung in Berlin ignorierte den Genozid bewusst. "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht", notierte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Dezember 1915.
Dass Deutsche damals zu Komplizen der Verbrecher geworden seien, dürfe nicht bedeuten, "dass wir heute zu Komplizen der Leugnung werden", so Özdemir. Wie die anderen Redner auch betont der Grüne, dass die heutige Türkei und die Türken von heute keine Schuld tragen. "Das gilt ja auch für uns mit Blick auf die Shoah", also für den Holocaust, fügt er hinzu. "Aber wir tragen Verantwortung." Und das gelte auch für die Türkei.
"Die haben wirklich was zu befürchten"
Lammert hatte zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, dass türkischstämmige Abgeordnete Morddrohungen erhalten hätten und dies "inakzeptabel" genannt. Özdemir spricht über diese Drohungen eher beiläufig. Wenn er nachher den Bundestag verlasse, werde er nicht verhaftet, seine Immunität werde nicht aufgehoben, er werde nicht zusammengeschlagen und nicht umgebracht. Für Oppositionelle in der heutigen Türkei, so die Botschaft, sei dies anders. "Unsere Solidarität gilt diesen Menschen, die haben wirklich was zu befürchten, die zahlen einen hohen Preis."
Özdemir ist auch der einzige Redner, der den Völkermord an den Herero und Nama erwähnt. "Auch dieser Völkermord wartet darauf, dass er aufgearbeitet wird." Dieser vom Deutschen Reich verübte Völkermord im heutigen Namibia wird in der Armenien-Resolution des Bundestags nicht erwähnt. Noch immer haben das deutsche Parlament und die Bundesregierung den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts nicht als Völkermord anerkannt. "Es ist an der Zeit, dies zu korrigieren", fordert auch der Historiker Jürgen Zimmerer in einem Gastbeitrag bei n-tv.de.
Gysi ärgert sich über "pathologische Ausschließeritis"
Die "bemerkenswerte Mehrheit", von der Lammert sprach, schließt die Linken ein, obwohl diese an der Ausarbeitung der Resolution nicht beteiligt waren. Gregor Gysi, der für die Linke spricht, wirft Kauder vor, unter "pathologischer, also krankheitsbedingter Ausschließeritis" zu leiden. Außerdem kritisiert Gysi, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Debatte fehlen.
Auf der Besuchertribüne saßen übrigens auch die Botschafter aus Armenien und aus der Türkei. Erst am Dienstag war der türkische Diplomat mit Steinmeier zusammengetroffen, wie Steinmeiers Sprecher mitteilte. Hüsein Avni Karslioglu sei im Auswärtigen Amt gewesen – zusammen mit anderen Diplomaten aus den Teilnehmerländern der Fußball-Europameisterschaft. "Der türkische Botschafter kam zwar im Jackett", so der Sprecher, "aber hatte unter dem Jackett das Trikot der türkischen Nationalmannschaft dabei und wirkte allerbester Dinge".
Doch die EM wird Karslioglu wohl aus der Türkei verfolgen. Kurz nach der Abstimmung meldet eine regierungsnahe türkische Zeitung, dass die Türkei ihren Botschafter zurückgerufen habe.
Quelle: ntv.de