Politik

Die Freibeuter von der Insel So sieht der neue Kurs der Briten aus

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(Foto: dpa)

London startet mit guten Vorsätzen ins neue Jahr: Der Brexit soll den nationalen Unfrieden überwinden und die Partnerschaft mit der EU erneuern. Tatsächlich zielt Johnsons Strategie eines "globalen britischen Freibeutertums" bewusst auf Irreführung, Intransparenz, Zwist - nach innen wie nach außen.

Das Land der Briten ist traditionell ein Panoptikum aus Schein und Sein. "Public Schools" sind in Wahrheit Privatschulen. Royals, die sich "Mountbatten-Windsor" nennen, tarnen ihre Herkunft "von Battenberg" und "von Schleswig-Holstein Sonderburg-Glücksburg". Und wo "Mini" und "Rolls Royce" draufsteht, ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts maßgeblich BMW drin.

In diesem Licht und mit dieser Systematik mag es nicht überraschen - und wäre es sogar ein bisschen konsequent - würde sich das "Vereinigte Königreich" irgendwann selbst als Etikettenschwindel entpuppen. Der Unfriede im Innern des Landes hat jedenfalls Dimensionen angenommen, die bald schon die Bezeichnung "Das Geschiedene Königreich" rechtfertigen könnten. Auf Englisch: "The Untied Kingdom".

Ein weiteres Meisterstück aus dem britischen Panoptikum ist der Brexit selbst. Er stand zur Abstimmung. als niemand eine genaue und alle keine gemeinsame Vorstellung davon hatten, wie er überhaupt aussehen solle. Schon das Referendum im Juni 2016 war ein Mysterium aus Schein und Sein. Zunächst wurde erklärt, es sei nicht bindend. Danach hieß es: Lange soll es uns binden! Mit diesem zweifelhaften wie unantastbaren Widerspruch ist ein politischer Prozess in Gang gesetzt worden, der in früheren, allgemein stärker bewaffneten Zeiten, vielleicht einen Bürgerkrieg ausgelöst hätte. Auch auf der zwischenstaatlichen Ebene Europas hätte man sich noch im 19. Jahrhundert militärische Schritte vorstellen können, ausgelöst durch die eine oder andere Provokation aus London, Brüssel oder Straßburg. In der Logik von britischer wie europäischer Union existieren militärische Optionen jedoch nicht mehr. Eine ihrer Errungenschaften besteht darin, dass sie den Krieg gewissermaßen abgeschafft und durch Verhandlungen ersetzt haben. In der Logik des Brexit wäre ein Krieg hingegen nicht mehr ausgeschlossen.

Dennoch werden viele Briten, womöglich die Mehrheit, die am 12. Dezember für Boris Johnsons "One-nation Tory"-Partei gestimmt haben, die Weihnachtsfeiertage mit der Überzeugung verbracht haben, dass sie am Ende eines politisch äußerst konfliktreichen Jahres für die Einheit und für den Frieden in ihrem Land gestimmt haben. Doch das ist ein Trugschluss, der einmal mehr den Vexier- und Zerrbildern in einem Panoptikum gleicht. Er besteht darin, dass man Premierminister Boris Johnson gewählt hat, damit er das größte Problem löse - "get Brexit done" - und dass man ihn danach rasch wieder abwählen könne. So hatten die Briten es einst auch mit Premierminister Winston Churchill gemacht, nachdem er die Herkulesaufgabe des Kriegs gelöst hatte.

Johnson ist viel respektloser als Churchill

Tatsächlich aber werden die Briten Boris Johnson jetzt nicht mehr so leicht los. Das liegt auch daran, dass er noch viel rücksichts- und respektloser ist, als es Churchill je war. Er tritt Gewohnheiten - in einem Land, das von Gewohnheiten lebt - mit den Füßen. Er ist weder ein "good chap" noch ein "Gentleman", auf dessen Wort oder Handschlag Verlass ist. Er hat nicht einmal davor zurückgeschreckt die Königin zu täuschen. Das Problem ist oft beschrieben und benannt worden: Boris Johnson ist ein Lügner - the Lord of the Lies.

Der wohl größte Trugschluss der Wahlen vom 12. Dezember bestand in der Vorstellung, die beiden Spitzenkandidaten seien mit realistischen Angeboten angetreten. Tatsächlich sind weder Jeremy Corbyns noch Boris Johnsons Fantasien umsetzbar, weshalb sie beide genau genommen gar nicht wählbar waren. Dass man Corbyn als ideologischen Träumer bezeichnen kann, der sich programmatisch selbst betrogen hat, war Johnsons großer politischer Vorteil - ihm könnte Selbstbetrug nicht passieren. Er ist ein pragmatischer, auf den eigenen Vorteil und das beste Ergebnis bedachter Meister der Suggestion. Er hat den Briten ein friedlicheres Weihnachtsfest und sogar einen Babyboom versprochen, würden sie sich nur für ihn und für den schnellen Brexit entscheiden.

Das Wahlergebnis baut unterdessen auf den falschen Versprechungen einer von den Regeln der EU befreiten Gesellschaft, die deshalb fairer, selbstbestimmter und letztendlich leistungsfähiger sein soll. Ein großer Teil der Bevölkerung, womöglich wieder die Mehrheit, wird sich allerdings irgendwann eingestehen müssen, dass mehr Deregulierung, weniger Einwanderung und die Beseitigung der Solidarität, der Transparenz und der Kooperation in einer Union nicht automatisch ein besseres Leben schaffen. Frei nach Theodor Adornos berühmtem Verdikt kann es kein richtiges Leben in den falschen Versprechungen derjenigen geben, die lange suggeriert haben, man werde - einem Überwachungsstaat ähnlich - andauernd von und in der EU beobachtet und behindert, während man außerhalb - in echter Freiheit und endlich wieder - unbeobachtet und ungehindert agieren könne.

Aus diesem oft bemühten und doch trügerischen Grundmuster der Argumentation ist eine künstliche Kontroverse um die Freiheit entstanden. Boris Johnson ist angetreten, um sie mithilfe von zwei Schlüsselbegriffen zu lösen, die ausgerechnet dieselben Anfangsbuchstaben wie "Great Britain" besitzen:

1. "global"

2. "buccaneering"

Wenn Angela Merkel Bedenken über den neuen Kurs der Briten äußert und Politiker wie Diplomaten aus verschiedenen europäischen Ländern hinter vorgehaltener Hand vor einer Art "neuem China vor der europäischen Küste" warnen, dann ist es weniger die Sorge vor einem "Global Britain", für das schon Premierministerin Theresa May eifrig warb. Es erzeugt vielmehr allgemeine Verwunderung, dass das Vereinigte Königreich erst jetzt darüber nachdenkt, seine Rolle und Möglichkeiten im Kreis der Commonwealth Staaten auszuschöpfen. Als Mitgliedstaat der EU hätte es längst seine globalen Beziehungen spielen lassen und - immer auch zum eigenen Vorteil - als Brücke nach Kanada, Neuseeland oder Australien dienen können.

Angst vor dem "Piratenkurs"

Sorge bereitet vielmehr die so offen wie offensiv vorgetragene Absicht, sich in Zukunft als "Buccaneering nation" zu positionieren. Vernünftige britische Medien wie die "Financial Times" oder "The Ecomomist" haben wenig Verständnis für diese Strategie, die sich schlicht auch als "Piratenkurs" beschreiben ließe - oder noch viel schlichter als Arschlochtour. Buccaneers waren Freibeuter, die in der frühen Neuzeit mit der Kenntnis und nicht selten auch mit Unterstützung der britischen Regierung (und der Monarchen) um die Welt segelten und ohne Rücksicht auf Moral und Anstand jeden Vorteil mitnahmen, der sich bot. Das Reich ist durch sie tatsächlich reicher geworden und hat deshalb häufig beide Augen zugedrückt, wenn es um Sanktionen für ihr brutales Handeln ging. Es ist immer vorstellbar, dass sich heutzutage ein kleiner Teil der Bevölkerung von dieser Form der Komplizenschaft angesprochen fühlt. Doch wie ist es möglich, dass ein Regierungschef damit die absolute Mehrheit erzielt?

Um zu illustrieren, was in der heutigen Zeit mit "Buccaneering" gemeint sein könnte, kann man zum Beispiel den Blick auf die wirtschaftlichen Gepflogenheiten richten. Diese waren von Anbeginn der britischen Mitgliedschaft in der EG vor den Küsten des Königreichs Usus. Ohnehin war es stets bemerkenswert, dass kein anderer Mitgliedstaat über so viele Sonder- und Niedrigsteuergebiete verfügte. Die vorteilhaften und zugleich oft intransparenten Geschäfte und Positionen, die Unternehmen und Privatpersonen auf den Kanalinseln Jersey, Sark und Guernsey oder auf der zwischen Irland und Großbritannien gelegenen Isle of Man unterhalten, sind selten Thema in der Öffentlichkeit.

Um mehr darüber zu erfahren, sind entweder vertrauliche private Kontakte oder investigative Fähigkeiten und vor allem der Wille zur Recherche erforderlich. An offizielle Zahlen lässt sich jedenfalls genau so schwierig gelangen wie an die Namen der Eigentümer vieler Immobilien auf dem britischen Festland. Das Vereinigte Königreich betreibt ein gigantisches Schattenreich aus Konten, Briefkastenfirmen und Geschäftsführerposten. Dies hat auch zu einer Politik geführt, in der Schein und Sein kaum auseinanderzuhalten sind: Öffentlich wird Steuergerechtigkeit und "Accountability" gepredigt. Im Verborgenen werden diese Vorstellungen ignoriert und mit den Füßen getreten.

Ein Codewort wie "Buccaneering" trägt die allgemeine Sehnsucht nach Reichtum, einer Hundepfeife ähnlich, in die Gesellschaft und lässt selbst ärmere Schichten träumen. Während "New Labour" einst versprach, das Geld der Reichen werde unter optimalen Bedingungen auf jeden Einzelnen hinabtropfen ("it will trickle down"), hat Boris Johnson bewusst wie unterbewusst mit den Methoden der Reichen geworben - und mit dieser Ansprache sogar mehrere klassische Labour-Wahlkreise gewonnen.

So wenig Regeln wie nötig

"Buccaneering" bedeutet, sich rücksichtslos über die Interessen der Zivilgesellschaft, von Minderheiten und letztendlich der Armen hinwegzusetzen. Es geht immer um Vorteile, um Wetten, um Margen und vor allem um so wenig Regeln wie nötig und möglich. In Schottland und in Nordirland macht Boris Johnson mit diesem Appell keinen Stich. Man tickt dort anders und befürchtet den Ausverkauf durch einen Mann, der sich rühmt, nicht berechenbar zu sein. Und der sich immer zuerst nach seinen reichen Stammwählern und nach Millionen aufstrebenden Engländern richtet, die hoffen, bald als Buccaneers der Gegenwart zu profitieren.

Dass die englischen Freibeuter in unserer Zeit nicht auf den Weltmeeren, sondern im eigenen Land auf heftigen Widerstand stoßen könnten, darauf deuten einerseits die bemerkenswerten Ergebnisse der Unterhauswahlen in Schottland und in Nordirland hin. Andererseits hat sich eine niemals dagewesene außerparlamentarische Opposition formiert, um eine Lücke zu schließen, die durch das britische Mehrheitswahlrecht traditionell noch vergrößert wird. Diese Opposition umfasst all diejenigen, die sich im britischen Panoptikum, das ab sofort als eine Art "Global Buccania" antritt, nicht vertreten fühlen. Und die vielleicht insgesamt lieber in einem Land leben möchten, in dem das Sein mehr zählt als der Schein. Vor allem aber wollen sie für ein paar Pfund mehr in der Tasche nicht ihr "United Kingdom" aufs Spiel setzen. Den Buccaneers ist es am Ende egal.

Quelle: ntv.de

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