Politik

Was wiegt wessen Leben? TV-Zuschauer spielen blinde Justitia

Eurofighter-Pilot Lars Koch (Florian David Fitz, vorn), Verteidiger (Lars Eidinger, l), Staatsanwältin (Martina Gedeck) und Richter (Burghart Klaußner).

Eurofighter-Pilot Lars Koch (Florian David Fitz, vorn), Verteidiger (Lars Eidinger, l), Staatsanwältin (Martina Gedeck) und Richter (Burghart Klaußner).

(Foto: picture alliance / dpa)

Darf ein Pilot der deutschen Luftwaffe 164 Menschen töten, um das Leben von 70.000 Menschen zu retten? Das Fernsehpublikum muss diese quälende ethische Frage heute Abend beantworten.

Nichts, aber auch gar nichts, scheint mehr so zu sein, wie es einmal war. Selbst in der Glotze folgt ein Tabubruch nach dem anderen. Neuerdings ist das Spoilern erlaubt, sogar gewünscht. Der Duden definiert den Begriff "Spoiler" - das Wort kommt aus dem Englischen (to spoil = verderben) - wie folgt: "Zusammenfassung eines Films, Buchs oder Ähnlichem, die dem Leser oder Zuschauer das Interesse an der Geschichte verdirbt, indem für Spannung sorgende Informationen aus der Handlung verraten werden."

Am Montagabend läuft in der ARD ein Film, der derlei Verrat zum Konzept erhebt. Jeder Zuschauer darf und soll den gesamten Plot kennen. Das Spoilern dient als Einladung zur Teilnahme an der Volksabstimmung über einen Menschen zur Frage: Ist er ein Mörder oder ein Held? Ein abwägendes "irgendwie beides" kann es nicht geben, nur ein Ja oder Nein, schuldig oder unschuldig, lebenslang Knast oder Freispruch. Denn der Zuschauer schlüpft in die Rolle der blinden Justitia, ihres Zeichens Göttin der Gerechtigkeit.

Betont wird dieser Ansatz schon im Titel "Terror - Ihr Urteil". Das Gerichtsdrama ist die filmische Umsetzung des Theaterstücks "Terror" des schreibenden Rechtsanwaltes Ferdinand von Schirach. Es ist das momentan meistgegebene Kammerspiel auf deutschen Bühnen, was bei dem Thema und Inhalt nicht verwundert.

164 oder 70.000 Opfer

Ein islamistischer Terrorist, der im Film - gemessen an seinem astreinen Deutsch, das im Gerichtssaal in einem eingespielten Funkspruch zu hören ist - ein Konvertit sein muss, kapert eine mit 164 Menschen besetzte Maschine der Lufthansa - die Airline wird tatsächlich genannt, während Laptops mit fiktiven Namen versehen wurden. Er zwingt die Piloten, Kurs auf München zu nehmen. Plan des mörderischen Fanatikers ist es, das Flugzeug in die mit 70.000 Menschen gefüllte Allianz-Arena zu fliegen, des Heimstadions des FC Bayern München. Gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten schießt ein Kampfpilot der deutschen Luftwaffe das Flugzeug ab, niemand überlebt.

Der Pilot muss sich vor Gericht verantworten. Das Stück spielt nur im Gerichtssaal. Der Zuschauer verfolgt die Beweisaufnahme, die persönlichen Einlassungen des Beschuldigten und einer Nebenklägerin (die Witwe eines Opfers) sowie die Plädoyers. Die Frage, über die er am Ende entscheiden soll oder kann, lautet: Darf man 164 unschuldige Menschen töten, um mutmaßlich 70.000 unschuldige Menschen zu retten?

Keine Skrupel. Der Eurofighter-Pilot ignorierte die Befehle.

Keine Skrupel. Der Eurofighter-Pilot ignorierte die Befehle.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die von Martina Gedeck verkörperte Staatsanwältin - der Film ist durchgehend stark besetzt - verlangt unter Verweis auf das maßgebliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Verurteilung wegen Mordes in 164 Fällen. Unter Rot-Grün war Anfang 2005 ein Anti-Terror-Gesetz in Kraft getreten, das im Fall einer Flugzeugentführung durch Extremisten den Abschuss der Maschine durch die Luftwaffe erlaubte, auch wenn dies den Tod Unschuldiger zwangsläufig mit sich bringen würde. Die Karlsruher Richter gaben einer Verfassungsbeschwerde dagegen statt. Unter Verweis auf Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, argumentierten sie, es sei "schlechterdings unvorstellbar, unschuldige Menschen, die sich in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten".

Der Verteidiger, gespielt von Lars Eidinger, plädiert auf Freispruch. Er stellt seinen Mandanten als Helden dar, der 70.000 Menschen vor einem Terroranschlag gerettet habe und kein Mörder sei.

Tatsächlich schafft es von Schirach zu vermitteln, wie schwierig Rechtsfindung ist oder zumindest sein kann. Die Beweisaufnahme zu verfolgen, ist spannend und vermittelt Wissen, wie Terrorabwehr in unserem Land funktioniert. Der Film enthält allerdings eine Szene, die den Anspruch durchkreuzt, die Fiktion so real wie nur möglich abzubilden. Plötzlich wird ein Zeuge selbst zum Angeklagten, als die Staatsanwältin zur Sprache bringt, dass es keinen Befehl gab, das Münchner Stadion zu räumen. Selbst der Richter schaut völlig überrascht ob der Einlassung der Anklägerin.

Fragwürdige Bundeswehr-Darstellung

Doch glaubt ernsthaft jemand, dass diese Frage erst in der Hauptverhandlung aufgekommen und dem Richter nie zuvor in den Sinn gekommen wäre, darüber nachzudenken, dass das Stadion eventuell hätte geräumt werden können? Diese Szene gehört zu Schirachs Darstellung der Bundeswehrführung, der latent unterstellt wird, den Abschuss gewollt und gebilligt zu haben. Der angeklagte Pilot, gespielt von Florian David Fitz, wird denn auch als seelen- und in Ansätzen gefühlsloser Automat gezeichnet, dem - man weiß es nicht so genau - die 164 Toten, die er auf dem Gewissen hat, nicht wirklich viel ausmachen. Er würde jedenfalls wieder so handeln.

Staatsanwältin und Verteidiger bringen jeweils in ihren Plädoyers Argumente vor, die ihre Haltung jeweils überzeugend untermauern. Das hinterlässt Eindruck. Nichtsdestotrotz werden die TV-Schöffen für Freispruch plädieren - alles andere wäre eine riesige Überraschung. Nach Angaben der Website zu "Terror" endeten 93 Prozent sämtlicher Aufführung bisher mit einem Sieg der Verteidigung. Aktuell wird dort das Verhältnis von Frei- zu Schuldsprüchen mit 491 zu 37 angegeben.

Keine Freiheit ohne Risiko

Die Frage ist nur: Wie hilfreich und sinnvoll sind derlei Volksurteile via Glotze? Mit Sicherheit spielt bei der Urteilsfindung Angst eine weitaus größere Rolle als Argumente des Bundesverfassungsgerichts: Lieber die im Flugzeug als ich! Sich vorzustellen, ein vollbesetztes Flugzeug werde abgeschossen, ist schlimm genug. Sie ist aber erträglicher als die Annahme, ein bis auf den letzten Platz ausverkauftes Stadion werde zum Ziel wahnsinniger Terroristen.

Doch was, wenn das abgeschossene Flugzeug in das Zentrum einer Kleinstadt vor den Toren Münchens krachen würde? Würde dann nicht ganz Deutschland diskutieren, ob man den Terroristen nicht hätte überrumpeln können? War es richtig, die Maschine militärisch vom Himmel zu holen? Und ist es nicht sowieso viel besser, die Sicherheitsbestimmungen an Flughäfen immer weiter zu verfeinern und - wenn nötig - zu verschärfen sowie Ermittlern und Staatsschützern das Rüstzeug an die Hand zu geben, dass ein solches Wahnsinnsszenario möglichst niemals eintritt?

Das klug entworfene Stück Schirachs wirft Fragen auf, die (leider) gestellt werden müssen. Freiheit ohne Risiko wird es in einem demokratischen Rechtsstaat niemals geben. Die Frage ist aber auch, wer die Antworten gibt und wo. Der frühere FDP-Politiker Gerhart Baum, der erfolgreich gegen das fragliche Anti-Terror-Gesetz geklagt hatte, appellierte an die ARD: "Lassen Sie das!" Die ARD hat sich dafür entschieden, ihr Publikum zu Schöffen zu erheben. Urteilsverkünder ist Frank Plasberg in seiner Talkshow "Hart aber fair". Das Ganze nennt sich dann TV-Event.

Quelle: ntv.de

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