Waffengewalt, Justiz, Kongress Es gibt andere Wege zu Trumps Sieg
03.11.2020, 15:11 Uhr
New Yorker Geschäfte schützen ihre Verkaufsfläche aus Angst vor Ausschreitungen im Zuge der US-Wahl.
(Foto: imago images/TheNews2)
Bewaffnete an Wahllokalen, Heerscharen von Anwälten, Tricks im Kongress: Die Szenarien bei der US-Präsidentschaftswahl sind gefühlt unendlich. Trump kann sie für sich nutzen.
In der texanischen Großstadt Houston und ihren Vororten wohnen 4,7 Millionen Menschen. Bei der Wahl zählen sie alle zu Harris County. Und wie in den meisten US-amerikanischen Metropolen werden dort vor allem Demokraten gewählt. Als am 13. Oktober das early voting begann, standen die Menschen bis zu elf Stunden in der Schlange vor den Wahllokalen oder fuhren mit ihren Autos zu Drive-ins, um aus dem sicheren Auto heraus ihre Stimme für US-Präsident Donald Trump oder seinen Herausforderer Joe Biden abzugeben. Eine Vorsichtsmaßnahme im Corona-Jahr, eingerichtet von der örtlichen Wahlbehörde.
Was macht man als republikanischer Parteifunktionär, wenn man potenzielle Demokraten-Wähler zur Abgabe strömen sieht? Man versucht, ihre Stimmen für ungültig erklären zu lassen. Ob im Bundesstaat Wisconsin oder Pennsylvania, North Carolina oder Texas: Überall dort, wo es ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt oder republikanische Mehrheiten in Gefahr sind, wird vor Gericht gestritten. Die Parteimitglieder wollen deshalb die Zahl der Brief- oder Frühwahlstimmen minimieren. In Harris County wären es 127.000 Stimmen auf einmal. Das Argument: Wählen per Drive-In hätte es ja früher auch nicht gegeben. Hier ging der Versuch allerdings schief.
Unliebsame Wähler bei ihrer Stimmabgabe zu behindern, das hat es in den USA schon immer gegeben. Es waren vor allem Afroamerikaner oder die indigenen Völker, die ausgeschlossen wurden. Sei es - bis zum Verbot -, indem eine Wahlsteuer erhoben wurde, oder dass erwachsene Menschen dunkler Hautfarbe vor dem Eingang ins Wahllokal richtig schätzen mussten, wie viele Bonbons sich in einem Glas befanden. Das sollten Tests auf Zurechnungsfähigkeit sein - nach Art der Südstaaten.
Doch dieses Jahr ist Schlimmeres zu befürchten, bis zu offener Gewalt. Es gibt andere Wege zum Sieg, als nur sämtliche Stimmen auszuzählen. Was passiert, wenn Trump bewaffnete Anhänger auffordert, vor Wahllokalen nach "Betrügern" zu suchen? Wenn es zu Straßenschlachten zwischen Trump-Milizen und "Black Lives Matter"-Demonstranten kommt? Was geschieht, wenn Trump schlicht und einfach das Ergebnis nicht anerkennen wird, sich weigert, das Weiße Haus zu verlassen? Er und seine Verbündeten könnten auch ein klares Ergebnis verhindern.
Waffen erlaubt
Bei der Gouverneurswahl 1981 in New Jersey etwa hatten die Republikaner Polizisten angeheuert, die nach Dienstschluss bewaffnet und mit Walky-Talkys in der Hand vor Wahllokalen in den afroamerikanischen Vierteln auftauchten. Solche Einschüchterungen sind auch diesmal möglich, denn nur sechs Bundesstaaten verbieten Waffen an oder in Wahllokalen, stellte eine Studie fest. Unter anderen in den Swing-States Pennsylvania, Wisconsin und Michigan gibt es dagegen kein Gesetz. Die Republikaner wollen 50.000 Freiwillige mobilisieren, um in solchen Swing-States nach angeblich dubiosen Wählern Ausschau zu halten. "Wir haben Sheriffs, wir werden die Sicherheitsbehörden haben und, hoffentlich, Staatsanwälte", sagte Trump bei Fox News.
Seit Monaten schwört Trump seine Anhänger darauf ein, dass eine Niederlage nur durch Betrug zustande kommen könnte. "Die einzige Art und Weise, uns den Sieg zu nehmen, wäre durch eine manipulierte Wahl", sagte er auch am 24. August auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner. Seine stete Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, ob er eine Niederlage anerkennen würde: "Wir müssen abwarten, was passiert." Das kann alles bedeuten. Es gibt Berichte darüber, dass sich Trump in der Wahlnacht vorab zum Sieger ausrufen lassen will. Demnach befürchtet er, dass sich wegen der hohen Anzahl Briefwähler die Ergebnisse in den Bundesstaaten danach zugunsten der Demokraten verändern.
Die bedrohlichsten Szenarien für den Wahlausgang erwarten aber viele erst in der 79-tägigen Übergangszeit zwischen Wahltag und dem Tag der Amtseinführung. "Denn unsere Verfassung", zitierte die Zeitschrift "The Atlantic" einen Verfassungsrechtler, "sichert eine friedliche Machtübergabe nicht, sondern setzt sie voraus." Über alle juristischen Kämpfe entscheidet in letzter Instanz der Supreme Court. Dort haben Konservative eine klare Mehrheit.
Was geschehen könnte
Zu erwarten ist also, dass zunächst eine Heerschar von Trumps Anwälten die Auszählung von Briefwahlstimmen anfechten wird. Angriffspunkte gibt es viele. Da sind Wähler vielleicht umgezogen und geben eine neue Adresse an, oder jemand schreibt als Vorname Ben statt Benjamin, oder seine Unterschrift sieht heute geringfügig anders aus, als vor Jahren im Computer gespeichert. Die Auseinandersetzungen vor Gericht können Wochen dauern. Doch die Zeit drängt.
Am 8. Dezember müssen die 50 Bundesstaaten und Washington D.C. die 538 Wahlmänner oder Wahlfrauen bestimmen, die sechs Tage später verfassungsgerecht den Präsidenten wählen. Üblicherweise weisen die Bundesstaaten ihre Wahlmänner dem Kandidaten zu, der dort die meisten Stimmen bekommen hat. Doch in der Verfassung steht das so gar nicht. Da steht nur, dass die Wahlmänner so ausgesucht werden, wie es das Parlament des jeweiligen Staates festlegt. Das heißt: Die Bundesstaaten könnten theoretisch machen, was sie wollen.
Pennsylvania gilt als Schlüsselstaat bei dieser Präsidentschaftswahl. Gut möglich, dass, falls nach Wochen die Auszählung der Briefwahlstimmen wegen Einsprüchen und Klagen noch nicht eindeutig entschieden ist, die Republikaner im Parlament von Pennsylvania sagen: Unser Eindruck ist, dass Trump der Sieger ist, und deshalb benennen wir entsprechende Wahlmänner. Allerdings ist der Gouverneur von Pennsylvania ein Demokrat. Der könnte sich verweigern und trotzdem Bidens Wahlmänner ins Rennen schicken.
Einmal gab es das schon. Im Jahr 1876 war es in vier Bundesstaaten umstritten, wer der dortige Wahlsieger war: Samuel Tilden, der Demokrat, oder der Republikaner Rutherford B. Hayes. Am Ende benannten die vier Staaten jeweils zwei Wahlmännerdelegationen. Damals hatten sich die beiden Kontrahenten mit einem schmutzigen Deal auf Kosten der Afroamerikaner geeinigt. Diesmal würden die USA wohl vor einer Verfassungskrise stehen, denn die gesetzliche Lage ist alles andere als einfach.
Verfassung oder Gesetz?
Es könnte die Stunde von Vizepräsident Mike Pence schlagen, der gemäß dem 12. Zusatzartikel zur Verfassung, "in Gegenwart von Senat und Repräsentantenhaus" die Stimmen zählt, wie er es will. Also etwa Pennsylvanias Stimmen für Trump. Stattdessen könnte aber auch der Electoral Count Act gelten, ein 133 Jahre altes Gesetz, widersprüchlich und schlecht geschrieben. Dort steht, dass der Kongress die Wahlmännerstimmen zählen muss, die vom jeweiligen Gouverneur zertifiziert wurden. Also Pennsylvanias Stimmen für Biden.
Falls Republikaner und Demokraten sich nicht einigen, muss das Repräsentantenhaus entscheiden. Aber nicht alle Abgeordneten, sondern nur jeweils einer eines Bundesstaates. Von denen sind derzeit 26 republikanisch dominiert. Doch bevor Vizepräsident Mike Pence in alphabetischer Reihenfolge von Pennsylvania auf Rhode Island zu gelangt, beschreibt "The Atlantic" sein Szenario, würde die demokratische Mehrheitsführerin Nancy Pelosi im Repräsentantenhaus ihr Recht wahrnehmen - und die Kongresspolitiker einfach nach Hause schicken. Nun könnte Pence die Stimmen nicht mehr "in Gegenwart von Senat und Repräsentantenhaus" zählen.
Sollte das Drama bis zum Januar andauern, gibt es zwei Männer mit uneingelöstem Anspruch auf das Präsidentenamt: Donald Trump und Joe Biden. Eine Frau wäre Präsidentin: Nancy Pelosi. Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses übernimmt die Staatsgeschäfte, falls Präsident und Vizepräsident sie nicht ausführen können. Weder Trump noch Pence können das irgendwann noch, da am 20. Januar ihre Amtszeit beendet ist. Zumindest in diesem Punkt ist die amerikanische Verfassung glasklar.
Quelle: ntv.de