Politik

Kräftemessen um die Visafreiheit "Übersetzt heißt Bosporus übrigens Schlund"

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(Foto: picture alliance / dpa)

Der Streit um die Visafreiheit treibt Europa und die Türkei weiterauseinander. Die deutsche Presse betont, wie sehr die EU vom Flüchtlingsdeal abhängt. Aber auch, welch ein Totalschaden eine Zurückweisung für Erdogan wäre.

Die Visafreiheit scheint ein Schlüsselscharnier für die Zukunft Europas und der Türkei zu werden. Doch anstelle von Kooperationsbemühungen ist ein diplomatisches Armdrücken zu beobachten. Die Türkei droht, Flüchtlinge zu schicken – die EU will 72 Forderungen erfüllt wissen. In der Presse wird nicht nur betont, wie sehr die EU vom Flüchtlingsdeal abhängt, sondern auch, welch ein Totalschaden ein Scheitern für Erdogan wäre.

Das Handelsblatt plädiert für einen Kompromiss: "Die Kanzlerin ist lange genug im außenpolitischen Geschäft, um zu wissen, dass man sich Partner wie Erdogan nicht aussuchen kann. Sie muss auch mit Autokraten zusammenarbeiten, wenn sie die Interessen des Landes wahren will", heißt es in der Zeitung aus Düsseldorf. Außerdem sei auch Erdogan an einem Deal interessiert und könne "nicht das Ziel haben, sein Land zu einem riesigen Aufnahmelager für Flüchtlinge aus Krisengebieten weltweit werden zu lassen. Deswegen wird er sich davor hüten, es sich komplett mit der EU zu verscherzen. Wichtiger sind für ihn zwar die USA und die Nato. Doch ohne seine europäischen Nachbarn kann auch er nicht erfolgreich sein. Er braucht Geld für die Versorgung der Flüchtlinge. Die Türkei ist auf Europas Märkte angewiesen, und das Land braucht europäische Touristen. Übersetzt heißt Bosporus übrigens Schlund. Man kann nur hoffen, dass der Türkei-Deal dort nicht verschwindet."

Die Westfälische Nachrichten aus Münster bemerken, die Wogen zwischen Ankara und Brüssel schlügen gerade gefährlich hoch. Kritisch mahnt der Autor an, Europa sei "gut beraten, den türkischen Präsidenten Erdogan in die Schranken zu weisen. Die schlichte Wahrheit ist, dass Ankara die Bedingungen zur Gewährung der Visafreiheit für Türken nicht erfüllt. Einen Freibrief für Erdogan darf es nicht geben, auch wenn der sich wie Rumpelstilzchen aufführt und den Europäern mit dem Scheitern des Flüchtlingspakts droht."

Küsst die EU der Türkei die Füße oder ist Präsident Erdogan letztlich derjenige, der mehr zu verlieren hat?

Küsst die EU der Türkei die Füße oder ist Präsident Erdogan letztlich derjenige, der mehr zu verlieren hat?

(Foto: imago/Hoffmann)

"Wie ernst meinen es beide Seiten mit ihren Drohgebärden?" Dies fragt der Kölner Stadt-Anzeiger und fügt sogleich hinzu, dass die EU die Türkei dringend braucht. "Dort leben Millionen Flüchtlinge. Erdogan könnte dafür sorgen, dass sie sich in Richtung Europa auf den Weg machen. Ein Kompromiss muss her!" Optimistisch heißt es weiter, "es wäre ein Wunder, wenn Frank-Walter Steinmeiers Diplomaten und andere nicht längst daran arbeiteten. Eins sollte nicht vergessen werden: Es geht um Menschen."

Das Straubinger Tagblatt bezeichnet "die gegenseitige Abhängigkeit" von EU und Türkei als viel größer als Erdogan öffentlich einräumen könnte. Für den Kommentator scheint die EU in diesem Kräftemessen am längeren Hebel zu sitzen, denn "ein türkischer Staatspräsident, der wenige Schritte vor dem Erreichen des lange versprochenen Ziels einer visafreien Einreise in die europäischen Mitgliedstaaten versagt, wäre innenpolitisch blamiert. Der Anfang vom Ende Erdogans könnte so aussehen. Es sind nicht wenige in Europa, die sich genau das wünschen."

In der Huffington Post aus München wird der Streit um die Visafreiheit als "eine Wette" bezeichnet, "dass sich die Flüchtlingskrise mit der Türkei ohne Plan B lösen lässt. Dieser Plan B fehlt nun, wo sich sowohl Brüssel als auch Ankara in entscheidenden Punkten nicht entgegenkommen. Diese Planlosigkeit ist erschreckend, denn scheitert der Flüchtlingsdeal, steht Europa wieder dort, wo es Anfang des Jahres war: Vor der schier unlösbaren Aufgabe, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Dann wäre Merkels Flüchtlingspolitik endgültig gescheitert." Infolgedessen, ahnt der Autor, stünde Deutschland das bevor, "was Österreich gerade durchmacht: Eine Regierungskrise mit unabsehbaren Folgen."

Zusammengestellt von Anna Heidelk

Quelle: ntv.de

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