Politik

Dürfen Deutsche bald öfter wählen? Vorstoß für Volksentscheide

Mehr Demokratie durch mehr Volksabstimmungen?

Mehr Demokratie durch mehr Volksabstimmungen?

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Man kann die Uhr danach stellen. Diesmal sind es Horst Seehofer und Wolfgang Schäuble. Die Forderungen deutscher Politiker nach mehr Volksabstimmungen kehren regelmäßig wieder. Doch nicht nur die Frage über die Zukunft Europas könnte die jahrelangen Scheindebatten jetzt beenden. Die SPD geht in die Offensive.

Wenn Thomas Oppermann die Augenbrauen anhebt, wechselt er meist ganz schnell in Richtung Angriff. Er freue sich über die "neoplebiszitären Demokraten Schäuble und Seehofer", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD nicht ohne Häme. "Damit rennen sie bei uns offene Türen ein."

Kündigte einen Gesetzesentwurf über Volksabstimmungen an: Thomas Oppermann, der Erste Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD.

Kündigte einen Gesetzesentwurf über Volksabstimmungen an: Thomas Oppermann, der Erste Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD.

(Foto: picture alliance / dpa)

Das Thema Volksabstimmungen ist seit dem vergangenen Wochenende wieder aktuell. Wenn noch mehr Rechte nach Brüssel übertragen würden, seien die Grenzen des Grundgesetzes erreicht. Dann müsste das deutsche Volk entscheiden, sagte zunächst Finanzminister Schäuble in einem Interview und brachte damit plötzlich mögliche Entscheide über den Europakurs.

CSU-Chef Seehofer sprang dem Parteikollegen kurze Zeit später bei: Europa sei 60 Jahre lang eine Angelegenheit politischer Eliten gewesen. Jetzt müsse die Bevölkerung beteiligt werden. Selbst seine Kandidatur zu Wiederwahl als bayerischer Ministerpräsident knüpfte Seehofer plötzlich an diese Bedingungen. Seine Partei müsse sich im Wahlprogramm für Volksabstimmungen aussprechen. "Es gibt den Kandidaten und ein Programm nur im Paket."

Schließlich schaltete sich sogar noch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, ein. "Wenn wir einen europäischen Bundesstaat schaffen, dann brauchen wir eine neue Verfassung und dann muss das Volk entscheiden." Sobald die Hoheitsrechte des Bundestags reduziert und damit gekippt werden, wäre eine Volksabstimmung erforderlich.

Hase und Igel

Angela Merkel gefiel die plötzliche Debatte, so kurz vor der großen Abstimmung um den Fiskalpakt, überhaupt nicht. Die Bundeskanzlerin pfiff ihre Parteikollegen jedenfalls zurück. Sie sehe vorerst keine Notwendigkeit, die Machtfülle der EU durch eine Volksabstimmung absichern zu lassen. Dies sei eher "ein Schritt von übermorgen". Merkel weiß um die Konsequenzen. Wenn das Land bei politischen Fragen stärker mitmischt, verliert sie automatisch an Macht. Sie müsste die Entscheidung über wichtige Themen in fremde Hände geben, aber die Kanzlerin will nicht die Kontrolle verlieren.

Drei Unionspolitiker, zwei Meinungen: Seehofer, Schäuble und Merkel.

Drei Unionspolitiker, zwei Meinungen: Seehofer, Schäuble und Merkel.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Doch kaum war die Debatte ausgebrochen, war sie nicht mehr aufzuhalten. Die Sozialdemokraten amüsieren sich köstlich über das Hin und Her zwischen den Unionspolitikern – und nehmen die Debatte dankbar auf. Schon nach der Sommerpause im September, das kündigt Oppermann an, legt die SPD demnach einen Gesetzesentwurf vor, um Volksabstimmungen im Grundgesetz zu verankern. "Wir wollen die repräsentative Demokratie modernisieren und um Plebiszite ergänzen. Die Zeit ist reif."

Die Hoffnungen auf mögliche Volksentscheide über den künftigen Europakurs dämpft Oppermann jedoch. "In diesem Sommer steht Europa auf dem Scheideweg. Es ist nicht klar, wie es weiter geht", warnt er, "aber in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten helfen uns Volksabstimmungen nicht weiter. In diesem und im nächsten Jahr wird es sie sicherlich noch nicht geben."

Und am Ende schloss er das Thema mit einem letzten Angriff. Es sei viel zu wenig, Direkte Demokratie nur für die Euro-Frage einzuführen, nur weil es gerade opportun erscheine. "Eine Abstimmung allein zur Euro-Frage ist populistisch. Wir brauchen mehr direkte Demokratie insgesamt." Eines scheint sicher: Mit einer Abstimmung über Volksentscheide könnte die SPD die Kanzlerin und ihre uneinige Partei ein Jahr vor der Bundestagswahl gehörig unter Druck setzen.

Die Weimarer Erfahrungen

In der Diskussion um große politische Fragen rufen deutsche Politiker gerne nach mehr Volksabstimmungen. Den Bürger stärker zu beteiligen, ist gute PR für die Parteien. Schließlich sind über 70 Prozent der Deutschen laut einer "Stern"-Umfrage für Volksentscheide. Bei SPD und Grünen stand die Öffnung gegenüber direktdemokratischen Plebisziten schon in den 1990ern in den Wahlprogrammen. Mehrere Vorstöße, den Artikel 29 im Grundgesetz um mehr Elemente Direkter Demokratie zu erweitern, scheiterten aber an der notwendigen Zweidrittelmehrheit.

Im Gegensatz zum Nachbarland Schweiz ist die Bürgerbeteiligung in Deutschland jedoch wenig entwickelt. Dass Volksentscheide auf Bundesebene wenig ausgeprägt sind, hat auch historische Gründe. Die direkte Demokratie wurde 1918 nach Ende des Ersten Weltkriegs eingeführt. Nach Ansicht vieler Historiker trugen die Plebiszite in den 1920er Jahren jedoch vor allem zur Stärkung der extremen Parteien bei. Die Nationalsozialisten ließen nach ihrer Machtergreifung unter anderem über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und Reichspräsidenten in der Person Hitlers abstimmen. Dementsprechend zurückhaltend zeigte sich der Parlamentarische Rat bei der Erarbeitung des Grundgesetzes gegenüber dem Thema Volksabstimmungen.

Ein von der Bevölkerung initiierter Entscheid ist gar nicht vorgesehen. Referenden sind nur in zwei Fällen möglich: bei der Ablösung des Grundgesetzes durch eine Verfassung – worauf die Verfassungsrechtler Voßkuhle und Kirchberg anspielen - oder bei einer Neugliederung des Bundesgebietes.

In den Bundesländern sind Plebiszite – sowohl von der Politik als auch von der Bevölkerung eingeleitet - in den jeweiligen Verfassungen festgeschrieben. Die Bedingungen für die Quoren sind jedoch sehr restriktiv und scheitern häufig an den hohen Hürden. In Bayern regte die Bürger Volksbegehren über eine Forstreform (2004), das neunjährige Gymnasium (2005) und Gesundheitsvorsorge beim Mobilfunk (2005) an. Obwohl es jeweils eine hohe sechsstellige Zahl an Einträgen gab, scheiterten die Initiativen an der 10-Prozent-Hürde. Andernorts müssen mindestens 30 Prozent der Stimmberechtigten teilnehmen, damit ein Entscheid bindend ist.

Die beiden letzten Erfahrungen mit Volksabstimmungen sind zwiespältig. Vor eineinhalb Wochen stimmten die Münchner Bürger gegen den Bau einer dritten Startbahn am Münchner Flughafen. Ob sich Ministerpräsident Seehofer an das Votum hält, ist jedoch noch nicht sicher. Das Baden Württemberg initiierte im November 2011 einen Entscheid über den Tiefbahnhof Stuttgart 21 ab. Mit 60 Prozent stimmte die Mehrheit der Menschen für den Bau des Projektes. Es heißt, die Volksabstimmung habe dem umstrittenen Bahnhof letztlich zu der Legitimation verholfen, die ihm vorher gefehlt hätte.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen