Politik

Macrons Rentenreform Warum die Proteste in Frankreich so heftig sind

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Die Proteste gegen die Rentenreform halten auch nach den überstandenen Misstrauensanträgen gegen die französische Regierung an.

(Foto: IMAGO/Le Pictorium)

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Nein, die Franzosen demonstrieren derzeit nicht für das Recht, früher Boule spielen zu können. Frankreich führt mit den Protesten auch nicht die Tradition des Sturms auf die Bastille fort. Der Grund für die Demonstrationen liegt im politischen System des Landes.

In Frankreich sind die Würfel gefallen. Die Rentenreform ist aus dem Parlament herausgenommen und vom französischen Präsidenten per Dekret verabschiedet worden. Ob sie tatsächlich umgesetzt wird oder ob Emmanuel Macron sie wieder zurückziehen muss, weil das Land von Protesten lahmgelegt wird, entscheidet sich jetzt auf der Straße. Ein spektakuläres politisches Drama, das vielen Deutschen fremd vorkommt.

Viele Deutsche glauben, die heftigen Protest liegen daran, dass sich die Franzosen das Alter anders vorstellen, dass die Franzosen so früh wie möglich das Berufsleben beenden möchten, um dann nur noch für die neue Freiheit in der Rente, für die Familie, für all die schönen Seiten des französischen Lebens da zu sein. Eine führende deutsche Tageszeitung bebilderte die Rentenproteste in Frankreich mit Boule spielenden älteren Männern in einer sonnigen Platanenallee.

Die Deutschen dagegen wollen genau umgekehrt häufig ihr Berufsleben verlängern. Immer mehr Deutsche arbeiten nach ihrem 60. Lebensjahr weiter, manchmal aus finanziellen Zwängen, aber oft auch, weil der Beruf die Mitte ihres Lebens bleiben soll. Aber ist damit wirklich die Verve erklärt, mit der die Franzosen gegen eine Heraufsetzung des Rentenalters von 62 auf 64 protestieren?

Franzosen und Französinnen gehen kaum früher in Rente

Sieht man sich die Wirklichkeit der Renten an, sind die deutsch-französischen Unterschiede nicht groß. Das gesetzliche Rentenalter liegt zwar in Frankreich deutlich unter dem Rentenalter in Deutschland. Aber tatsächlich gehen die Französinnen und Franzosen nur ein bis zwei Jahre früher in Rente als die Deutschen. Frankreich und Deutschland sind sich zu ähnlich, als dass man sich daraus das unverständliche politische Drama jenseits des Rhein verständlich machen könnte.

Warum dann diese starken Proteste? Immer wieder ist das Argument zu hören, das habe mit Geschichte und der Französischen Revolution zu tun. Der Sturm auf die Bastille, die Beseitigung der Monarchie und die Durchsetzung der rechtlichen Gleichheit aller Bürger motiviert, so das Argument, die Franzosen auch heute noch. Nachdem sie die Bastille 1789 erfolgreich gestürmt haben, glauben sie auch heute noch, dass solche Proteste auf der Straße die Machtverhältnisse ändern können. Demnach würden es die Franzosen seither lieben, politische Konflikte auf der Straße auszutragen. Die Deutschen besitzen diese Tradition angeblich nicht. Deshalb seien für sie die großen Demonstrationen in Frankreich unverständlich.

Auch Deutschland hat eine Tradition des Protests

Aber gibt es wirklich grundlegende deutsch-französische Unterschiede in der Einstellung zu Demonstrationen? Auch in Deutschland entstand, wenn auch später, eine Tradition großer demokratischer politischer Demonstrationen: die riesigen Aufmärsche im Tiergarten in Westen Berlins während des Kalten Krieges, die Vietnamdemonstration 1968, die Friedensdemonstrationen 1981, die besonders wirkungsmächtigen Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989, die Fridays-for-Future-Demonstrationen der jüngsten Zeit.

Die Demonstrationen in Frankreich mögen im Detail, in den Plakaten, im Einsatz von Musik, anders aussehen. Aber fremd sind den Deutschen große politische Demonstrationen auf den Straßen nicht. Der Unterschied zwischen demonstrationsvernarrten Franzosen und demonstrationsängstlichen Deutschen stimmt nicht. Auch daraus kann man sich nicht erklären, warum die Rentenreform so viele Franzosen auf die Straße bringt.

Parlament, Parteien und Gewerkschaften sind in Frankreich schwächer

Ein drittes Argument hat mehr Überzeugungskraft. Das von Charles de Gaulle 1958 in einer tiefen Staatskrise eingeführte Präsidialregime verleiht dem französischen Präsidenten unvergleichlich mehr Macht als das Grundgesetz dem deutschen Kanzler. Die in der französischen Verfassung verankerte Möglichkeit auf Einführung von Gesetzen ohne Zustimmung des Parlaments ist ein wichtiger Teil dieser Macht. Dieses Recht besaß auch der deutsche Präsident in der Weimarer Republik, und die Flucht in sogenannte Notverordnungen war einer der Gründe, warum diese erste Demokratie in Deutschland scheiterte. Wegen dieser Machtfülle des französischen Präsidenten ist das französische Parlament weit schwächer als der Bundestag, die französischen Parteien instabiler, die Verbände, Gewerkschaften und Experten in Frankreich weit weniger einflussreich als bei politischen Entscheidungen in Deutschland.

Der französische Präsident hat seine Machtfülle eingesetzt, um die Rentenreform durchzusetzen. Aber um einsame Entscheidungen des Präsidenten in Frankreich zu bekämpfen und auch zu kippen, sind in der Fünften Republik schon große massenhafte Straßendemonstrationen organisiert geworden. Sie waren auch manchmal erfolgreich. Eine Rentenreform wurde 1995 durch Straßendemonstrationen gestoppt.

Es ist also vor allem das von de Gaulle 1958 eingerichtete und seitdem nie reformierte französische Präsidialregime, das erklärt, warum Franzosen gegen eine einsame und unpopuläre Entscheidung des Präsidenten derzeit wieder auf die Straße gehen. Man versteht damit besser, was in Frankreich geschieht. Aber zu beneiden ist Frankreich nicht. Es gehört zu diesem Machtkampf über die Straße, dass die politischen Gefühle hochkochen, Verhandlungen und Kompromisse nicht mehr möglich sind und sich der Ausgang eines solchen kostenreichen Konflikts für beide Seiten nicht vorhersehen lässt.

Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.

Quelle: ntv.de

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