Politik

Nach der Wahl in Russland "Was die russische Bevölkerung denkt, ist völlig egal"

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Am Montag ließ Putin sich in Moskau für seinen Wahlsieg und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim vor zehn Jahren feiern.

Am Montag ließ Putin sich in Moskau für seinen Wahlsieg und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim vor zehn Jahren feiern.

(Foto: AP)

Warum ist der Moskauer Oberschicht europäische Seife wichtiger als der Krieg im Nachbarland? Der in Deutschland lebende russische Journalist Vladimir Esipov erklärt den Mangel an Mitgefühl auch mit der Armutserfahrung vieler Russen, denen es heute wirtschaftlich gut geht: "Es ist ein total kleinbürgerliches Festhalten an einem Lebensstandard, den man sich innerhalb einer Generation erarbeitet hat", sagt Esipov im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Sie haben das Wahlergebnis vorausgesagt, zumindest indirekt: In Ihrem Buch schreiben Sie über einen Bericht der exilrussischen Nachrichtenseite Meduza aus dem Sommer 2023, wonach der Kreml die Wahlbehörden angewiesen hat, dass Putin mindestens 80 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 70 Prozent bekommen sollte. Geworden sind es 87,3 Prozent. Ist das eine realistische Zahl?

Vladimir Esipov war Lokalreporter in Sankt Petersburg, später Chefredakteur der russischen Ausgabe des GEO-Magazins. Er arbeitet heute als Journalist bei der Deutschen Welle. Sein Buch "Die russische Tragödie" ist gerade erschienen.

Vladimir Esipov war Lokalreporter in Sankt Petersburg, später Chefredakteur der russischen Ausgabe des GEO-Magazins. Er arbeitet heute als Journalist bei der Deutschen Welle. Sein Buch "Die russische Tragödie" ist gerade erschienen.

(Foto: privat)

Vladimir Esipov: Ich finde die gesamte Debatte über diese Veranstaltung so überflüssig. Ich will nicht unhöflich klingen, aber es ist doch ganz egal, ob es 85 oder 87 Prozent sind. Das ändert nichts an den Tatsachen. Wladimir Putin sitzt fest in seinem Sessel, er hat den Apparat, der ihm solche Wahlergebnisse ermöglicht, und was die Bevölkerung denkt, ist völlig egal. Es gibt Zahlen, dass 20 Prozent der Russen angeblich gegen diesen Krieg sind. Aber diese Zahlenakrobatik ist so sinnlos. Auch die Berichterstattung über diese sogenannte Wahl. Es gab keine Wahl im europäischen Sinne, Punkt. Und jede Aufregung darüber ist einfach Zeitverschwendung. Viel wichtiger finde ich die Frage, wann der Krieg beendet wird - damit das sinnlose Sterben aufhört.

Was war der Sinn der Wahl? Dass sich der Herrscher im Kreml vom Volk bestätigen lässt?

Es war ein Signal nach innen und nach draußen: Ihr könnt uns nichts anhaben. Im Inland gibt es keine Opposition, in keinster Weise. Richtung Ausland ist es ein ausgestreckter Mittelfinger, vor allem nach Washington, zum Teil auch Richtung Berlin. Die Wahl war eine symbolische Geste, mit der der Staat der Welt demonstrieren wollte, dass das Land hinter dem Präsidenten steht, mehr nicht.

Alexej Nawalny hatte noch vor seinem Tod dazu aufgerufen, pünktlich um 12.00 Uhr zur Wahl zu gehen, um ein Zeichen des Protests zu setzen. Würden Sie sagen, dass die Schlangen vor einzelnen Wahllokalen ein solches Zeichen waren?

Was sich mir nicht erschließt: Welchen Sinn hat es, dass Menschen um 12.00 Uhr ins Wahllokal gehen, um an einer Wahl teilzunehmen, die sie für sinnlos, für nicht legitim und komplett manipuliert halten? Wenn diese Form des Protests die einzig mögliche ist, dann ist das schon ein bisschen jämmerlich. Man hat sich gegenseitig gesehen, man hat sich angelächelt und ein bisschen versucht, für einen Moment dieses Gefühl der Angst zu überwinden, das die komplette Gesellschaft durchdringt. Aber ich sehe da keine große Symbolkraft. Die Menschen in Russland, die gegen die Staatslinie sind, gehen nicht auf die Straße, sie protestieren nicht, sie fallen nicht auf. In den zwei Jahren Krieg ist die russische Gesellschaft total unter Kontrolle gebracht worden. Die Menschen trinken, statt zu protestieren.

Sie trinken?

In meinem Bekanntenkreis trinken einige als einzige Rettung gegen die Depressionen. Das ist aber kein Protest, das ist Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Aber eine sichtbare Protestbewegung, die sich manche in Europa wünschen würden, die es in der Ukraine gab und zum Teil 2020 in Belarus, die gibt es nicht. In Deutschland geht man davon aus, dass Proteste auf der Straße möglich sind und dass die Regierung die Bürger ernst nimmt. Das ist in Russland überhaupt nicht der Fall. Am Sonntag haben die Leute zum Teil sechs Stunden vor der russischen Botschaft in Berlin angestanden, um an dieser 12.00-Uhr-Wahl teilzunehmen. Kann man machen. Nur wird das an der politischen Realität in Russland nichts ändern.

Sie sprechen in Ihrem Buch an, dass auch Russen, die gegen den Krieg sind, kaum zu Mitgefühl mit der Ukraine fähig sind, sondern eher bedauern, nicht mehr an gute europäische Seife zu kommen. Woher kommt dieser Mangel an Empathie?

Ein Grund ist, dass man schlecht informiert ist. Seit mittlerweile zehn Jahren läuft in Russland auf allen Kanälen eine massive antiukrainische Kampagne. Auslöser war die zweite Revolution in Kiew im Februar 2014, die von der russischen Regierung de facto als Kriegserklärung des Westens wahrgenommen wurde. Die russische Regierung sieht sich seither im Krieg mit dem Westen, auch wenn der Westen das damals nicht wahrhaben wollte.

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Aber es ist auch die gesamte Weltsicht dieser Moskauer Oberschicht, die sich nicht für andere Länder interessiert. Ob Ukraine, Belarus oder Georgien - die russische Oberschicht will ihren Lebensstandard erhalten, sonst nichts. Die Seife war ein Extrembeispiel, aber wenn Sie mit Moskauern sprechen, dann sind die einfach extrem stolz darauf, dass alles beim Alten ist, dass der Lebensstandard nicht gesunken ist, dass man alle westlichen Waren weiterhin bekommt. Es ist ein total kleinbürgerliches Festhalten an einem Lebensstandard, den man sich innerhalb einer Generation erarbeitet hat. Der Freund von mir, der das mit der Seife gesagt hat, den kenne ich seit dreißig Jahren. Wir kommen beide aus sehr einfachen Verhältnissen - wir waren einfach nur arm Anfang der 90er. Seither haben viele Leute in Moskau einen unfassbaren Aufstieg in Sachen Lebensqualität erfahren. Die Durchschnittsgehälter in Moskau sind höher als in Berlin, zum Teil auch der Lebensstandard. Daran festzuhalten, das ist den Leuten wichtiger als etwas, das in einem Nachbarland passiert.

Immer wieder wird gesagt, da Putins Regime die Medien kontrolliert und es ohnehin keine Möglichkeit gibt, öffentlich zu widersprechen, könnte er den Russen jedes Ergebnis des Kriegs als Sieg verkaufen. Stimmt das?

Ich würde sagen, dass das stimmt. Es gibt zwar Möglichkeiten, sich aus alternativen Quellen zu informieren. Aber die Mehrheit wird das niemals machen. Man muss wirklich sagen, dass die russische Regierung aus dem Zerfall der Sowjetunion gelernt hat. Die Sowjetunion ist in erster Linie nicht aus wirtschaftlichen Gründen zerfallen, sondern in dem Moment zusammengebrochen, in dem die Menschen aufgehört haben, an sie zu glauben. Das ist die wichtigste Lehre, die die neue Regierung gezogen hat. Deren Schlussfolgerung war, dass man die öffentliche Meinung kontrollieren muss, damit die Menschen nicht anfangen, den Staat als Ganzes anzuzweifeln, wie es in der Sowjetunion passiert ist.

Was will Putin in der Ukraine erreichen, was ist das Kriegsziel?

Ich glaube, der ursprüngliche Wunsch war eine neutrale Ukraine. Einen neutralen Staat, außerhalb der NATO, mit einer politischen Führung, die diese Neutralität garantiert. In meiner Wahrnehmung war das eigentliche Ziel dieses Kriegs eine Ukraine, von der für Russland keine Gefahr ausgeht, denn die Revolutionen in der Ukraine 2004 und 2014 wurden in Moskau als Bedrohung für die innenpolitische Stabilität in Russland wahrgenommen: 2004 haben die protestierenden Ukrainer erreicht, dass die Stichwahl bei der Präsidentenwahl wiederholt werden musste; 2014 jagten sie gar ihren Präsidenten aus dem Amt und aus dem Land. Da gingen in Moskau sämtliche Alarmzeichen auf Rot. Aber mittlerweile ist die Dynamik des Kriegs so weit fortgeschritten, dass es um die Existenz des ukrainischen Staates gehen könnte.

Sie schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, Russland habe sich "von dem Bedürfnis befreit, von der Außenwelt gemocht zu werden, es hat sich emanzipiert von dem Wunsch, jemandem in Europa zu gefallen". Wann wollte Russland denn von Europa gemocht werden? Ist die klassische Sicht Russlands auf Europa nicht eher eine Mischung aus Bewunderung und Verachtung?

Diese ganzen internationalen Ambitionen waren darauf ausgelegt, vom Ausland gemocht zu werden: die G8-Mitgliedschaft, der UEFA-Cup-Sieg von Sankt Petersburg 2008, die Olympischen Spiele in Sotschi 2014, die Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Ich war lange Chefredakteur einer Reise-Zeitschrift und hatte in Moskau wirklich dauernd mit Menschen zu tun, die sich große Sorgen machten, dass das Land nach außen möglichst attraktiv erscheint, dass man Menschen ins Land lockt. Das war alles ein bisschen amateurhaft und naiv, aber der Wunsch war da.

Ein wichtiger Punkt in der russischen Propaganda ist der Vorwurf, der Westen sei "russophob". Sie sind Russe, Sie leben in Deutschland. Wie russophob ist Deutschland?

Diese Behauptungen sind kompletter Unsinn. So viel Sympathie, wie man als Russe in Deutschland erfährt, habe ich in keinem Land der Welt erlebt. Dabei findet sich jeder Mensch in Deutschland etwas, was er an Russland toll findet: Die einen bewundern die Opposition um Nawalny, die anderen finden Putin toll, die dritten vermissen ihre Reisen nach Moskau und die dortige Dekadenz. Aber es lässt niemanden kalt. Ich hatte noch kein einziges russophobes Erlebnis in Deutschland. Wenn die türkischstämmigen und arabischstämmigen Uber-Fahrer in Berlin sehen, wie ich heiße, dann haben sie trotzdem sehr viel Mitgefühl mit mir. Vielleicht informieren sie sich bei Russia Today, aber sie glauben, dass ich als Russe in Deutschland verfolgt werde.

Wie, glauben Sie, wird dieser Krieg enden?

Vor allem hoffe ich, dass er enden wird. Und ich hoffe, dass er nicht mit einem Atomwaffeneinsatz endet. Aber momentan stehen alle Zeichen auf Eskalation. Keine Seite ist bereit, einen Schritt zurückzutreten, es gibt keine Bemühungen um einen Waffenstillstand. So wie sich das gerade entwickelt, wird es dramatisch enden.

Mit Vladimir Esipov sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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