Politik

Angstthema Familiennachzug Wenn sich Flüchtlinge entscheiden müssen

Viele Flüchtlingsfamilien trennen sich vor oder während der Flucht. Frauen und Kinder sollen ihren Angehörigen erst später folgen. Dies könnte für einige unangenehme Folgen haben.

Viele Flüchtlingsfamilien trennen sich vor oder während der Flucht. Frauen und Kinder sollen ihren Angehörigen erst später folgen. Dies könnte für einige unangenehme Folgen haben.

(Foto: AP)

Viele Frauen und Kinder warten im Ausland darauf, nach Deutschland nachkommen zu dürfen. Dort könnten ihre Angehörigen bald vor der Wahl stehen: ein neues Leben oder ein Wiedersehen mit der Familie.

Ein paar Kinder laufen schreiend umher, am Rand stehen Männer und ziehen an ihren Zigaretten. Im Innenhof des alten Rathauses Berlin-Wilmersdorf, in dem 900 Flüchtlinge untergebracht sind, ist es leerer als in den warmen Sommermonaten. Umso voller ist es auf den Fluren. Die Gespräche der Flüchtlinge dominiert zurzeit ein Thema: Was wird aus Ehefrau und Kindern? Was, wenn sie doch nicht nach Deutschland nachkommen dürfen?

Möglich ist das. Die Bundesregierung will den Zustrom der Flüchtlinge begrenzen. Als eine mögliche Maßnahme gilt es, den Familiennachzug dauerhaft oder vorübergehend auszusetzen. Das könnte eine große Zahl an Menschen betreffen, die in den vergangenen Monaten nach Deutschland kamen. Bei den Flüchtlingen sind die Ängste so groß, dass sie manchen zur Verzweiflung treibt.

Baschar Alrifai ist seit August in Deutschland, seine Frau wartet in Ägypten darauf, ihm zu folgen.

Baschar Alrifai ist seit August in Deutschland, seine Frau wartet in Ägypten darauf, ihm zu folgen.

(Foto: Rothenberg)

Zum Beispiel Baschar Alrifai. Der 30-jährige Syrer sah seine Frau zum letzten Mal im März. Bevor er sich auf den Weg nach Deutschland machte, brachte er sie nach Ägypten. Der Plan war, seine Frau später nachzuholen und dann ein neues Leben in Deutschland zu beginnen. Mit einem Job als Arzt, einem eigenen Haus und Kindern. Jetzt fürchtet er, dass das nicht klappt. Zuerst las er auf einer arabischen Internetseite davon, dann sprach es sich im Wohnheim herum. "Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, wie es jetzt weitergehen soll", sagt er.

Neben Alrifai stehen zwei weitere Syrer: der 31-jährige Mohamed Masha'al und der 41-jährige Wasim Shaheen, beide aus Homs. Masha'al brachte seine Ehefrau und eines seiner Kinder in einer Wohnung in Jordanien unter. Dann kam er mit dem anderen Kind über die Balkanroute nach Deutschland. Shaheen machte es genauso. Seine Frau und zwei Kinder warten in Jordanien darauf nachzukommen, er ist mit den anderen zwei Kindern in Berlin. Die drei Syrer haben bereits eine Aufenthaltsgestattung und warten auf eine -genehmigung. Sobald sie diese erhalten, können sie den Familiennachzug beantragen. "Mir wurde gesagt, dass ich meine Familie nach vier bis sechs Monaten nachholen kann", sagt Masha'al. "Was die deutsche Regierung plant, ist schrecklich. Es zerstört meine Träume."

"Diesmal gibt es keinen Plan B"

Mehr als 900.000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr bereits vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge registriert worden. Ende 2015 soll die Millionenmarke übertroffen sein. Offen mag kaum ein Regierungspolitiker sagen, dass die Aufnahmebereitschaft erschöpft ist. Aber hinter vorgehaltener Hand sagen Unions- und SPD-Politiker inzwischen deutlich: Viel mehr geht nicht. Alrifai hat kein Verständnis für den Mentalitätswechsel in der deutschen Politik. "Es ist falsch. Wir haben unser Leben riskiert durch die Flucht. Uns zu verbieten, die Familien nachzuholen, macht uns kaputt", sagt er.

Alrifai hat seine Frau am Telefon erzählt, dass es Probleme geben könnte. "Wir haben gestritten. Sie ist total verzweifelt und fragt, wie es weitergeht. Bei allen Problemen, die ich in meinem Leben bisher hatte, gab es einen Plan B, diesmal nicht." Unter den Flüchtlingen in Wilmersdorf gibt es zurzeit fast kein anderes Thema. Viele wollen ihre Ehefrauen, die in der Ferne warten, nicht verunsichern und sagen lieber gar nichts. "Meine Frau fragt jeden Tag, wann sie kommen darf. Die Telefonate sind schwierig genug. Wir weinen viel", sagt Shaheen, der in Syrien als Mechaniker für Mercedes- und MAN-Trucks arbeitete.

Die Große Koalition konnte sich in dieser Woche nicht auf das geplante zweite Asylpaket verständigen. Die Entscheidung wurde auf Januar verschoben. In dieser Woche beschlossen die Innenminister auch bei syrischen Flüchtlingen die Rückkehr zur Einzelfallprüfung. Diejenigen, die künftig subsidiären Schutz erhalten, wären von einer Neuregelung des Familiennachzugs betroffen.

Quälende Ungewissheit

Alleine in Deutschland bleiben oder mit der Familie zurück in die Heimat, aus der man geflohen ist: Die drei Syrer in Wilmersdorf müssen sich eines Tages vielleicht entscheiden. Möglich ist auch eine Aussetzung des Familiennachzugs für zwei Jahre. Ob sie so lange warten würden, mit der Aussicht, dass der Rest der Familie dann nachkommen darf? Alrifai zuckt mit den Schultern und schaut traurig. Masha'al will einen Anwalt einschalten. "Ich will nicht ohne meine Familie sein. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, gehe ich zurück nach Syrien. Aber dort komme ich zu 90 Prozent ins Gefängnis, weil ich geflohen bin und mich von Assad abgewandt habe."

Viele Flüchtlinge quält die Ungewissheit. Eine Hoffnung hat Alrifai. Dass die Koalition die Entscheidung vertagt hat, verschaffe ihm doch Zeit. Jede Woche rechnet er mit der Aufenthaltsgenehmigung. Möglicherweise kann er den Nachzug seiner Frau beantragen, bevor sich die Rechtslage ändert. "Könnte mir das vielleicht sogar helfen?", fragt er plötzlich. Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium halten sich zu dieser Frage bedeckt. Unter Fachleuten gehen die Meinungen auseinander. Ein Problem könnte die lange Bearbeitungsdauer sein. "Entscheidend ist immer die Rechtslage zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung", sagt der Jurist Joachim Wieland n-tv.de.

Die Aussichten für Alrifai und seine Frau können also besser sein. Der Syrer zieht an seiner Zigarette. Damals wollte er das Leben seiner Frau nicht aufs Spiel setzen, deshalb ließ er sie in Ägypten. Heute bezeichnet er dies als Fehler. Hätte er noch einmal die Wahl, würde Alrifai es anders machen.

Quelle: ntv.de

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