Obdachlose, die auf Schwäne starren Wie Nahles EU-Ausländer abschrecken will
02.12.2016, 10:07 Uhr
Viele der Gestrandeten sind womöglich als Wanderarbeitskräfte gescheiterte Osteuropäer.
(Foto: picture alliance / dpa)
Tausende Osteuropäer leben auf den Straßen deutscher Städte. In Berlin ist das Problem besonders sichtbar. Arme Menschen hausen in Parkanlagen. Die Regierung will "Einwanderung in Sozialsysteme" erschweren. Ob das funktioniert?
Auch Politiker der Grünen können im Umgang mit den sozial Schwächsten knallhart sein und verstehen sich in cleverer PR. Als der Bürgermeister des Berliner Bezirkes Mitte, Stephan von Dassel, jüngst mal wieder ein Obdachlosenlager im Tiergarten räumen ließ, nannte er die Betroffenen "Wildcamper". Das Wort "Obdachlose" tauchte in der Pressemitteilung kein Mal auf. Die Lebensumstände der "Wildcamper" stufte von Dassel zwar als "bemitleidenswert" ein, die hygienische Situation als "katastrophal". In der Sache blieb der Grüne jedoch hart. "Das wilde Campieren im Gartendenkmal Großer Tiergarten" könne "bei allem Verständnis" nicht toleriert werden, "zumal sich neben der Vermüllung die Tötung von dort lebenden Tieren zur Nahrungsbeschaffung häuft". Die Obdachlosen sollen Kaninchen und sogar Schwäne getötet und verspeist haben.
Jäger und Pfandflaschensammler mitten im Tiergarten – das ist absolute Normalität im Berlin des Jahres 2016. Dort, wo Rentner spazieren gehen, Jogger ihrem Sport nachgehen und junge Mütter Kinderwagen vor sich herschieben, errichten Obdachlose Lager. Die öden Quartiere an den Wegen zwischen dem Zoologischen Garten und der Straße des 17. Juni bestehen aus gespendeten Zelten, Pappkartons und Gartenschirmen. Die überwiegende Zahl der Gestrandeten sind als Wanderarbeitskräfte gescheiterte Osteuropäer, die oft haltlosen Versprechen ausbeuterischer Unternehmer und Betrüger gefolgt sind. Viele leben allerdings auch lieber als Obdachlose in Berlin als in brutalster Armut in der Heimat. Denn das Sozialsystem der Hauptstadt mit all seinen Stationen für kostenloses Essen und ärztliche Notfallversorgung ist ausgezeichnet.
Trotzdem könnte sich das Bild bald ändern: Die Frage ist nur: in welche Richtung? Der Bundestag billigte in der Nacht zum Freitag das Gesetz von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), das die Sozialleistungen für EU-Ausländer neu regelt. Es soll abschreckende Wirkung haben und eine fortgesetzte "Einwanderung ins deutsche Sozialsystem" verhindern. Menschen aus anderen EU-Staaten, die legal in Deutschland leben, arbeiten und Beiträge zahlen, sollen weiterhin Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Doch Neuankömmlinge müssen künftig fünf Jahre warten, ehe sie etwa Hartz IV beantragen können.
"Wer noch nie hier gearbeitet hat und für seinen Lebensunterhalt auf staatliche finanzielle Unterstützung aus der Grundsicherung angewiesen ist, für den gilt der Grundsatz: Existenzsichernde Leistungen sind im jeweiligen Heimatland zu beantragen", erklärt Nahles. Geld zur Überbrückung soll es künftig noch maximal vier Wochen lang geben – und für ein Rückreiseticket.
Kommunen klagen über Kosten
Mit dem Gesetz versucht die Sozialdemokratin auch, für Rechtsklarheit zu sorgen. Das Bundessozialgericht hatte einen Anspruch auf Sozialhilfe spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland zuerkannt – ein Urteil, dass bei Städten und Gemeinde auf scharfe Ablehnung stieß, weil sie das Geld aufbringen müssen.
Kein Wunder also, dass die kommunalen Spitzenverbände das Konzept der Ministerin bejubeln. So sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes: "Freizügigkeit innerhalb der EU bedeutet nicht, dass sich die EU-Bürger das Sozialsystem mit den umfassendsten Leistungen aussuchen können."
Die meisten EU-Einwanderer kamen 2015 mit knapp 175.000 Menschen aus Rumänien, gefolgt von Polen (148.000) und Bulgarien (72.000). Deutlich mehr als zwei Drittel von ihnen haben nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) feste Jobs oder arbeiten selbstständig. Rein von den Zahlen her betrachtet IAB-Professor Herbert Brücker Sozialmissbrauch und -betrug durch Osteuropäer als Marginalie.
Das Problem aus Sicht der Kritiker der gültigen Regelung ist weniger knallharter Betrug, sondern vielmehr die Leichtigkeit, ins Sozialsystem zu gelangen. Kommunalpolitiker wollten deshalb eine klare Festlegung, ab wann ein nicht-deutscher EU-Minijobber Anspruch auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen hat. Sie sehen die Gefahr, dass Osteuropäer vor allem von Landsleuten – auch zum Schein – Tätigkeiten zu Hungerlöhnen annehmen, die vom Staat "aufgestockt" werden. Doch so weit wollte Nahles nicht gehen.
"Rückkehrberatung" soll das Problem lösen
Im politisch linken Lager stößt das Vorhaben auf Kritik. Claudius Voigt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband warnt vor weiterer Verelendung. Ähnlich äußern sich die Grünen. Ihr sozialpolitischer Sprecher Wolfgang Strengmann-Kuhn erwartet keine abschreckende Wirkung. Die Leute würden dennoch ins reiche Deutschland kommen, meint er. Die Grünen wollen Neuankömmlingen aus der EU nach einer Karenzzeit von drei Monaten das Recht auf Hartz IV grundsätzlich gewähren, jedoch die Leistung streichen, sollten die Leute gar keine Arbeit suchen. "Gerade jetzt brauchen wir mehr und nicht weniger soziales Europa", sagt der Abgeordnete.
Das wachsende Problem der drastisch steigenden Zahl an Obdachlosen wird mit der Neuerung ohnehin vorerst nicht eingedämmt. Gerade zur Weihnachtszeit kommen etwa Rumänen, um zu betteln. Mitunter sind es "ganze Familien", wie ein Hamburger Sozialhelfer berichtet. In der Elbstadt ist die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, in die Höhe geschnellt. Osteuropäer besetzen eine Vielzahl der Winternotquartiere – obwohl sie formell gar keinen Anspruch auf staatliche Unterbringung hätten, da sie keinen Arbeitsnachweis erbringen können. Die Stadt diskutiert darüber, schärfer zu kontrollieren, damit Obdachlose mit Rechtsanspruch auf staatliche Unterkunft nicht draußen frieren müssen, während osteuropäische Bettler die Plätze belegen.
Die Hamburger Sozialbehörde bietet eine "Rückkehrberatung" an. Derlei Einrichtungen gibt es in mehreren Bundesländern. Die Arbeits- und Sozialminister befassten sich am Donnerstag auf ihrer Konferenz in Lübeck mit dem Thema. In einem einstimmig gefassten Beschluss forderten sie den Bund auf, "Beratungsstellen für mobile Beschäftigte" in allen Regionen Deutschlands einzurichten. Der Berliner Kommunalpolitiker von Dossel plädiert ebenfalls für eine "weitere dauerhafte Einrichtung" für obdachlose EU-Bürger mit "qualifizierter Rückkehrberatung". Wahrscheinlich hofft er, dann das Problem der "Wildcamper" loszuwerden.
Quelle: ntv.de