Die Niederlande vor den Wahlen "Wilders setzt jetzt auf den 'Tod oder die Gladiolen'"
26.10.2025, 18:02 Uhr Artikel anhören
Wilders wird wahrscheinlich wieder mit seiner PVV stärkste Kraft bei den Wahlen in den Niederlanden - aber vermutlich wieder nicht Premierminister.
(Foto: picture alliance / ANP)
Die Niederlande erleben wilde Zeiten. Nach dem Bruch der Viererkoalition stehen am Mittwoch Neuwahlen an. Der niederländische Professor Jacco Pekelder gibt im Interview Antworten zu Geert Wilders, den Chancen der Mitte-Parteien und wie es eigentlich mit dem Stadtbild in den Niederlanden aussieht.
ntv.de: Herr Pekelder, Sie sind Professor in Münster, bringen den Studenten die Niederlande näher. Bei der Geschichte, der Malerei, beim Fußball und beim Essen ist das sicher ein Vergnügen. Aber die Politik scheint komplizierter denn je. Verlieren Sie manchmal selbst den Überblick?
Der Professor Jacco Pekelder leitet das Zentrum für Niederlande-Studien der Uni Münster.
(Foto: ZNS / Uni Münster)
Jacco Pekelder: Das kann man schon sagen. Wir haben 17 Parteien im Parlament. An der Wahl nehmen sogar 27 Parteien teil. Es gibt allein zwei Tierschutzparteien. Das geht schon ins Skurrile. Man braucht nur etwa 70.000 Stimmen, um einen Sitz im Parlament zu bekommen, weil wir keine Sperrklausel wie die Fünfprozenthürde haben. Da ist es manchmal schwierig, das zu vermitteln. Aber es macht auch Spaß, weil die Unterschiede so groß sind. Auch wenn es im Bundestag mittlerweile mehr Parteien gibt als früher.
Nächsten Mittwoch, am 29. Oktober, wählen die Niederländer ein neues Parlament. Wie würden Sie den Moment beschreiben, an dem sich die Niederlande gerade befinden?
Ich neige nicht zum Dramatisieren, aber ich hoffe, dass wir an einem Wendepunkt stehen. Ich hoffe, dass die ernsthafteren Parteien, die in der Mitte, wieder mehr Zuspruch bekommen und wir die Schlüsselthemen endlich lösen können. In den vergangenen vier Jahren ist die niederländische Politik nicht zur Ruhe gekommen. Das muss sich ändern. Wir verlieren in Europa sehr stark an Einfluss. Wir werden nicht mehr ernstgenommen. Wir bekommen es nicht auf die Reihe, Geld aus Brüssel abzurufen, das uns zusteht. Nicht einmal auf einen Plan, wie man diese Mittel bekommt, konnten die Parteien sich einigen. Das ist lächerlich.
Wie würden Sie die Stimmung im Land beschreiben? Auch gegenüber der Politik?
Die Stimmung ist relativ mies. Es gibt eine große Studie vom Sociaal en Cultureel Planbureau dazu. Demnach sind viele Menschen sehr desillusioniert von der Politik. Sie glauben nicht mehr daran, dass die Politiker das Beste für das Land wollen. Viele glauben, sie seien nur mit sich und den Gegnern beschäftigt. Das ist nicht nachhaltig und da müssen wir heraus. Das erklärt auch, warum eine ganz neue Partei, der Nieuw Sociaal Contract ("Neuer Gesellschaftsvertrag"), beim letzten Mal auf Anhieb 20 Sitze bekommen hat. Aber am Ende haben sie in der Viererkoalition viel zu wenig durchgesetzt, dieses Mal werden sie womöglich keine Sitze mehr bekommen. Zwei Jahre Enttäuschung liegen hinter uns.
Die Wahlen finden nur zwei Jahre nach der letzten Wahl statt, weil eine Vierer-Koalition mit der Partei von Geert Wilders' PVV als stärkster Kraft zerbrach. Wilders verließ die Regierung wegen Migrationsthemen. Fanden Sie das glaubwürdig?
Nein. Die anderen Koalitionspartner hatten ihm und seiner Partei den Raum geboten, einen Großteil ihrer Pläne umzusetzen. Sie haben es aber nicht hinbekommen, das fachlich gut zu machen. Da fehlte Durchhaltewille und letztlich auch Kompetenz. Es gab viele Pannen und Skandale. Letzten Endes hat Wilders eine Koalitionskrise forciert. Er wollte die anderen Parteien einen Zehn-Punkte-Plan unterschreiben lassen. Die meinten, das stehe schon im Koalitionsvertrag. Dann ließ er die Regierung platzen.
Das wirkt von außen so, als ob er sich einen schlanken Fuß gemacht hat. Nach dem Motto: Opposition macht mehr Spaß als Regieren.
Ja, man kann aber auch fragen, ob er aus der Opposition heraus nicht mehr durchgesetzt hat. Gerade in Migrationsfragen hat er die Debatte geprägt und die anderen Parteien vor sich hergetrieben. Sein Problem war außerdem, dass er seinen eigenen Leuten nicht vertraut hat. Seine Partei hat ja außer ihm selbst gar keine Mitglieder. Er hatte wohl Angst, dass die Minister der PVV auf Dauer zu viele Kompromisse eingehen. Das wollte er nicht. Dadurch, dass er selbst nicht Minister oder gar Premierminister werden durfte, hatte er auch keinen direkten Zugriff.
Vor der letzten Wahl stimmte Wilders gemäßigtere Töne an, wurde schon "milder Wilders" genannt. Wie ist es jetzt?
Damals hatte die liberale VVD ihm die Tür geöffnet und war damit von der Linie von Ex-Premier Mark Rutte abgewichen. Jetzt hat die VVD aber wie alle anderen Parteien der Mitte eine Koalition mit ihm ausgeschlossen. Wilders hofft natürlich darauf, dass die VVD doch noch weich wird, wenn seine Partei mit großem Abstand stärkste Kraft wird. Danach sieht es aber im Moment nicht aus. Wilders setzt jetzt voll auf "den Tod oder die Gladiolen", wie wir in den Niederlanden sagen: alles oder nichts. Er ist nicht mehr milde und setzt wieder voll auf seinen Anti-Migrations- und Anti-Islam-Kurs. Versöhnungsgesten in die Mitte macht er nicht mehr.
Trotz der gescheiterten Regierung steht seine PVV in den Umfragen stabil da und ist die stärkste Kraft. Wie erklären Sie sich das?
Ein Teil der Wähler sucht vor allem einen Vorkämpfer, ein Sprachrohr - jemanden, der die eigenen Interessen ausspricht und für sie kämpft. Ob diese Person dann in der Regierung viel erreicht, scheint zweitrangig zu sein. Das ist auch in anderen Ländern so, Trump ist auch so jemand. Diese Rolle erfüllt Wilders noch sehr gut und auch wieder mehr als vor zwei Jahren. Er versteht es, sich die Aufmerksamkeit der Medien zu sichern, zum Beispiel durch kleine, gezielte Provokationen. Mittlerweile strahlt er auch eine gewisse Seniorität aus. Er ist mittlerweile der dienstälteste Abgeordnete. Er schwebt mehr über den Dingen, fast präsidial. Das gefällt vielen.
Bei den anderen Parteien könnte nach dieser Wahl wieder einmal alles anders sein als beim letzten Mal. Die Christdemokraten vom CDA erleben mit Spitzenkandidat Henri Bontenbal ein unglaubliches Comeback. Was kann Friedrich Merz von ihm lernen?
Sie könnten zweitstärkste Kraft werden, nachdem sie vor zwei Jahren am Ende schienen. Bontenbal wird als authentisch wahrgenommen, als einer, der sich um die Menschen kümmern will. Er verwendet eine klare Sprache, vereinfacht aber nicht zu sehr. Gelegentlich gesteht er auch Fehler ein. Das macht ihn vielen sympathisch und nahbar. Anders als Merz verfolgt er einen klaren Mitte-Kurs. Das ist eine Rückbesinnung. In den vergangenen fünfzehn bis zwanzig Jahren hat der CDA eher nach rechts geschielt und auch anti-islamische Dinge gesagt. Bontenbal macht das nicht mehr.
Glaubt in den Niederlanden noch jemand daran, die PVV von Wilders wieder kleinzukriegen, so wie die Parteien in Deutschland die AfD wieder kleinkriegen wollen?
Wir hoffen es natürlich alle, das sage ich als Bürger, aber ich glaube nicht daran. Das liegt auch daran, dass das alte Rechts-Links-Schema in den Niederlanden nicht mehr passt. Politikwissenschaftler sehen eher drei Blöcke: Rechtsaußen/Rechts gegenüber Mitte-Rechts gegenüber Mitte-Links/Linksaußen. Innerhalb dieser Blöcke wechseln die Wähler durchaus zwischen den Parteien. Für sich genommen sind diese Blöcke aber sehr stabil. Auch das ist ein Grund, warum die PVV nicht abgestraft wird, trotz ihrer schwachen Regierungsbilanz.
Als die Bauernpartei BBB bei den Provinzwahlen 20 Prozent holte, wurde das auch in Deutschland registriert. Bei dieser Wahl erscheint sie aber in Umfragen ganz schwach. Wie passt das zusammen?
Die Bauernpartei haben viele gewählt, die vorher bei den Christdemokraten heimisch waren. In den letzten Monaten hat sie sich aber sehr aggressiv in die Wilders-Richtung bewegt. Dieser Rechtskurs hat viele ursprünglich christdemokratisch gesinnte Wähler verschreckt. Zugleich ist die Christdemokratie wieder da und für vielen zeitweiligen BBB-Wählern wieder attraktiv geworden.
Wie könnte eine Koalition ohne Wilders aussehen? Die Gräben zwischen dem vom Ex-EU-Kommissar Frans Timmermanns geführten rot-grünen Bündnis und den Mitte-Rechts-Parteien wie VVD scheinen sehr tief zu sein.
Die eher liberale VVD sagt, sie wolle derzeit nicht mit dem rot-grünen Bündnis aus GroenLinks und der Partij van de Arbeid koalieren, weil es unter den Grünen angeblich einige Antifa-Extremisten gibt. Genau das wäre aber wichtig für eine arbeitsfähige Koalition der Mitte. Sollten die Christdemokraten vom CDA stärkste Kraft werden, wäre es vielleicht für die VVD vertretbar, unter deren Führung gemeinsam mit den Linken zu regieren. Aber das wird sicher zwei Monate dauern, bis die sich einigen. Statt VVD könnte auch die neue konservative Partei JA21 mitregieren. Die mögen die Linken aber auch nicht.
Deutschland diskutiert seit Tagen über Merz' "Stadtbild"-Aussage. Auch in den Niederlanden ist Migration ein Top-Thema. Dabei kommt mir zumindest in Amsterdam das Stadtbild noch bunter vor als in deutschen Städten. Wäre so eine "Stadtbild"-Debatte in den Niederlanden auch vorstellbar?
Wenn man beispielsweise über Bahnhofsvorplätze reden würde, wäre das in den Niederlanden auch ein Thema. In Utrecht und anderen Städten gibt es ein Problem. Dort gibt es mehrere Dutzend geflüchtete junge Männer, die in Bahnhofsnähe für Unruhe und Kriminalität sorgen. Das könnte auch in den Niederlanden eine größere Debatte werden.
Top-Thema im Wahlkampf ist aber der Wohnungsbau. In Deutschland ist die Bürokratie eines der größten Probleme. Sind die Niederländer etwa noch bürokratischer als die Deutschen?
Kern des Problems ist Stickstoff und richterliche Beschlüsse, dass der Ausstoß reduziert werden soll. Weil die bisherige Koalition mit der BBB die Viehhaltung nicht verringern wollte, wurden andere Sektoren getroffen, an erster Stelle die Bauwirtschaft. Es darf weniger gebaut werden, was die Preise im Wohnungsbau nach oben treibt. Das ist eine der Blockaden, die die neue Regierung durchbrechen muss. Seit kurzem ist auch Gesundheit und Pflege ein Top-Thema. Da punktet das rot-grüne Bündnis, weil sie dafür mehr Geld ausgeben würden. Das könnte noch wichtiger als der Wohnungsbau werden.
Manchmal wirkt es so: Blickt man in die Niederlande, sieht man auch die Zukunft Deutschlands - ein zersplittertes Parteiensystem, starke Rechtspopulisten sind nur zwei Beispiele. Ist da was dran?
Die Niederlande waren immer ein Handelsland und dadurch sehr weltoffen. So kommen kulturelle und politische Trends bei uns schneller an. In den Niederlanden hatten wir auch nie eine Diktatur. Daher hat das politische System weniger Puffer eingebaut, denken Sie an die Fünfprozenthürde. Das Parteiengesetz ist regelrecht naiv. Dass Wilders mit seiner Ein-Mann-Partei so viel Macht organisieren kann, ist für eine Demokratie eigentlich verheerend. Aber Deutschland ist heute auch moderner und weltoffener als vor zwanzig Jahren. Da brauchen manche Trends nicht mehr die Übersetzung durch die Niederlande, bevor sie in Deutschland landen.
Mit Jacco Pekelder sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de