800.000 Flüchtlinge "Wir brauchen deutlich mehr Entscheider"
10.09.2015, 13:23 Uhr
In Budapest zeigt ein syrischer Kurde die Karte, mit der er sich auf dem Weg nach Deutschland orientiert.
(Foto: dpa)
Die SPD fordert eine weitere Aufstockung des für Asylanträge zuständigen Bundesamts. Selbst nach den aktuellen Neueinstellungen werde es der Behörde nicht gelingen, 800.000 Fälle im Jahr zu bearbeiten, sagt SPD-Innenexperte Lischka.
n-tv.de: Sigmar Gabriel sagt, Deutschland könne für einige Zeit 500.000 Flüchtlinge pro Jahr verkraften. Wird das einfach oder schwer?

Burkhard Lischka ist innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag.
(Foto: picture alliance / dpa)
Burkhard Lischka: Das ist die entscheidende Frage, denn es geht ja nicht nur ums Verkraften, sondern auch darum, diese Aufgabe gut zu meistern. Wir wollen keine Zeltlager errichten, sondern die Flüchtlinge menschenwürdig unterbringen. Wenn sie bleiben dürfen, wollen wir ihnen unsere Sprache beibringen, ihnen eine Zukunft geben, ihnen Arbeit geben. Das ist eine große Herausforderung. Ich will nicht über Zahlen spekulieren, aber was wir in diesen Tagen erleben, sind schon Grenzen.
Das bedeutet?
Selbst wenn wir alle unser Bestes geben, werden wir in den nächsten Jahren vielleicht nicht allen gerecht werden können.
In den 90er Jahren sind die meisten Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach dem Ende der Kriege in ihre Heimat zurückgekehrt. Werden die syrischen Flüchtlinge auch wieder gehen?
Jeder Konflikt ist irgendwann beendet. Aber der Krieg in Syrien dauert mittlerweile vier Jahre an, es gab eine Viertelmillion Tote, unendliches Leid, unendliche Zerstörung. Dass sich derzeit mehr Menschen denn je aus Syrien und den Anrainerstaaten aufmachen, liegt vor allem daran, dass sie keine Perspektive mehr sehen, in ein befriedetes Land zurückzukehren. Ich sehe diese Perspektive in absehbarer Zeit auch nicht.
Wie erleben Sie die Stimmung an Ihrer Parteibasis? Gibt es die allseits gepriesene Willkommenskultur überhaupt?
Sowohl in der SPD als auch in der Bevölkerung insgesamt gibt es unzählige Menschen, die großes Verständnis für die Situation der Flüchtlinge haben, viele engagieren sich vor Ort. Ohne die ehrenamtliche Hilfe wären unsere Möglichkeiten in vielen Bereichen schon am Ende.
Auf der anderen Seite gibt es einen Teil dieser Gesellschaft, der meint, es seien schon viel zu viele Ausländer in Deutschland, der glaubt, wir sollten uns nicht um das Elend der Welt kümmern, der vielleicht auch glaubt, dass die Politik sich zu wenig um sie kümmere. Zwischen diesen beiden Polen gibt es einen relativ geringen Grundkonsens. Die Hauptaufgabe von Politik wird es sein, immer wieder für diesen Grundkonsens, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu arbeiten.
Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat sich sehr wütend über die Flüchtlingspolitik des Bundes gezeigt. Verstehen Sie ihre Kritik?
Zunächst hat Hannelore Kraft angemahnt, dass wir die Asylverfahren deutlich beschleunigen müssen. Diese Kritik teile ich – derzeit warten 60.000 Menschen länger als ein Jahr auf eine Entscheidung, mehr als 12.000 Menschen länger als zwei Jahre, wir haben 265.000 unerledigte Asylanträge. Das ist eine Belastung, nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die Betroffenen. Wenn in diesem Jahr 800.000 Flüchtlinge kommen, werden die im Mai vereinbarten 2000 Neueinstellungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht ausreichen.
Derzeit hat das BAMF 2800 Mitarbeiter.
Ja, aber nur 560 davon entscheiden über die Asylanträge. Durch die derzeitigen Neueinstellungen wird es bis zum Jahresende 1000 sogenannte Entscheider geben. Im Durchschnitt schafft es ein Entscheider, 500 Fälle im Jahr abzuarbeiten. Man muss keine weiterführende Schule besucht haben, um festzustellen, dass es mit 1000 Entscheidern nicht gelingen wird, 800.000 Fälle plus 265.000 Altfälle zu bearbeiten. Insofern müssen wir da aufstocken.
Zweitens fordert Hannelore Kraft zu Recht, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie der Bund sich dauerhaft und verlässlich an den Kosten von Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beteiligt. Ich halte es auch für verständlich, dass die Länder mehr Geld fordern. Allerdings muss ich darauf verweisen, dass Bund und Länder sich erst vor einem Dreivierteljahr auf eine Summe von 500 Millionen Euro geeinigt haben. Diese Summe ist später verdoppelt worden, jetzt reden wir über eine weitere Verdreifachung. Ich glaube nicht, dass man dem Bund da pauschal vorwerfen kann, er würde sich aus der Verantwortung stehlen. Manches Land muss sich zudem an die eigene Nase fassen: Einige Kommunen klagen, dass ihre Landesregierungen ihnen die Kosten der Unterbringung nicht vollständig erstatten.
Deutschland nimmt alle syrischen Flüchtlinge auf, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer und quer durch Europa geschafft haben, aber wir tun nichts dafür, diesen Weg weniger gefährlich zu machen. Ist das nicht in höchstem Maße widersprüchlich?
Wenn wir es schaffen würden, die mit den Flüchtlingen verbundene Last solidarisch auf mehrere Schultern zu verteilen, wäre die zwangsläufige Folge aus meiner Sicht, über ein Resettlement-Programm zu sprechen. Man könnte dann in Zusammenarbeit mit der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR einem bestimmten Kontingent syrischer Flüchtlinge die Möglichkeit bieten, legal und ohne Schleuser nach Europa zu kommen. Das setzt aber voraus, dass diese Flüchtlinge in Europa verteilt werden. Im Moment tun 23 EU-Staaten so, als ginge sie das Problem nichts an.
Würde ein solches Resettlement-Programm bedeuten, dass man die Grenzen für die anderen Flüchtlinge dichtmacht?
Wenn wir zu einer gemeinsamen Lösung in Europa kämen, bräuchten wir keine Grenzen dichtzumachen, das wäre für Europa mit 506 Millionen Einwohnern zu stemmen, jedenfalls in der derzeitigen Größenordnung. Wenn wir keine Lösung finden, spielt dies denen in die Karten, die wieder Grenzzäune errichten wollen – nicht nur um Europa herum, sondern auch zwischen den europäischen Staaten. Dann wäre eine der größten historischen Leitungen in Europa komplett verspielt.
Mit Burkhard Lischka sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de