Interview mit Sergey Lagodinsky "Wir brauchen einen Plan B, wenn die amerikanische Seite der Nato ausfällt"
14.09.2025, 07:46 Uhr Artikel anhören
US-Präsident Donald Trump am 18. August bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office.
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Auch Deutschland müsste sich nach einem Waffenstillstand in der Ukraine an einer Friedenstruppe beteiligen, sagt der grüne Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky. "Eine grundsätzliche Ablehnung der deutschen Beteiligung halte ich für keine aufrichtige Position." Im Interview mit ntv.de spricht er zum über die Schwierigkeit, Anknüpfungspunkte mit JD Vance zu finden, sowie über einen "Sicherheitsrat der Willigen" in Europa.
ntv.de: Nach Angaben aus Paris wollen sich 26 Länder nach einem Waffenstillstand an einem möglichen Ukraine-Einsatz beteiligen. Wie stellen Sie sich Sicherheitsgarantien für das Land vor?
Sergey Lagodinsky: Die Ukraine braucht zwei Dinge: reale Sicherheit und reale Garantien. Das bedeutet, dass wir die Waffenlieferungen an Kiew verstetigen oder sogar erhöhen müssen. Gleichzeitig ist es aber nötig, eine Situation zu schaffen, in der wir die Amerikaner mit im Boot behalten. Wir müssen die Ukraine - außerhalb der Nato - so stark in unsere Verteidigungsstrukturen integrieren, dass sie von sich aus bereit ist, sich gegenüber Russland zu verteidigen. Auch im Bereich der Sanktionen gegen Moskau dürfen wir auf keinen Fall nachlassen. Bei einer Normalisierung der Beziehungen zur russischen Regierung und zum russischen Präsidenten, wie wir sie bei Wladimir Putins Besuch in China gesehen haben, dürfen wir nicht mitmachen.

Sergey Lagodinsky ist Grünen-Abgeordneter im Europäischen Parlament und Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten. Er ist rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie Sprecher für Russland und transatlantische Beziehungen.
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Könnten Sie sich chinesische oder türkische Soldaten als Friedenstruppen vorstellen?
Für mich ist schwer vorstellbar, wie chinesische Truppen diese Rolle übernehmen könnten, nachdem Peking doch eine sehr unterstützende Rolle gegenüber Russland spielt. Die Türkei ist eine andere Geschichte. Durch ihre Solidarität mit den Krimtataren hat sie eine sehr klare Position bezüglich der Zugehörigkeit der Krim bezogen. Ich finde es aber nicht besonders produktiv, jetzt in der öffentlichen Debatte über Details zu sprechen. Ich warne davor, dass wir uns bei dieser Übung so sehr vergaloppieren, dass uns die Situation im Hier und Jetzt entgleitet.
Würden Sie im Prinzip die Entsendung von Bundeswehrsoldaten als Friedensmission unterstützen, falls es dazu kommt?
Ich spreche jetzt nur für mich. Das ist nicht die Position meiner Partei. Aber wenn Deutschland die Führung im Bereich der Verteidigung und der europäischen Integration der Ukraine übernimmt, dann kann es nicht sagen: "Für die Präsenz oder die Sicherheitsgarantien müssen die anderen sorgen." Eine grundsätzliche Ablehnung der deutschen Beteiligung halte ich für keine aufrichtige Position. Konkret wird es aber darauf ankommen, welches Mandat unter welchen Bedingungen wo in der Ukraine umgesetzt wird. Und das ist immer das Ergebnis von Absprachen vieler Beteiligter.
Im Mai haben Sie darauf bestanden, dass Europa einen "Sicherheitsrat der Willigen", also ein europäisches Sicherheitsgremium als strategisches Entscheidungszentrum, braucht. Warum ist es nötig?
Unsere Geschwindigkeit bei Entscheidungen ist einfach nicht ausreichend. Das müsste allen Beteiligten in der "Koalition der Willigen" langsam klar werden. Auch in Moskau sieht man natürlich mit großem Interesse die Schwierigkeiten bei den Entscheidungsfindungen der EU. Und das darf man in so einer Situation nicht zeigen.
Ist in Berlin der Mehrwert eines solchen Gremiums erkennbar?
Meiner Meinung nach muss die Bundesregierung bei der Gestaltung der Strukturen eine Führungsrolle übernehmen - und zwar nicht nur bei der Finanzierung von Projekten oder der Durchführung von "Shuttle Diplomacy". Sie sollte zeigen, dass wir das Zeug dazu haben, neue, innovative, aber auch solide Strukturen zu entwickeln, die schnell und gut Entscheidungen treffen.
Um wie viele Mitglieder könnte es dabei gehen?
Sieben Mitgliedstaaten wären schon eine gute Hausnummer. Neben den Staaten sollte aus meiner Sicht auch die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, dazugehören, um die parlamentarische Aufsicht auf diese Art und Weise elegant zu verankern. Es ginge also um drei oder vier Länder mit den höchsten absoluten Verteidigungsausgaben. Und um zwei Länder mit den größten relativen Ausgaben. Zudem sollte ein Nicht-EU-Mitglied dazugehören.
Wäre ein Rotationsprinzip für Sie vorstellbar?
Alle Mitglieder außer der Präsidentin des Europäischen Parlaments könnten beispielsweise alle zwei Jahre neu gewählt werden. Dies ist notwendig, da wir nicht mehr in einem Europa leben, in dem es außenpolitische Kontinuität gibt und in dem wir nach einem Regierungswechsel davon ausgehen können, dass die neue Regierung das Projekt weiterhin unterstützt.
Wie lässt sich eine Überschneidung mit den Entscheidungsstrukturen der Nato vermeiden?
Meine Antwort ist die sogenannte "strategische Parallelität". Wir müssen beides hinbekommen. Einerseits müssen wir die Amerikaner motivieren, weiterhin in der Nato aktiv zu bleiben. Andererseits müssen wir so planen, dass wir mittelfristig zumindest die wichtigsten Funktionen selbst übernehmen können, wenn die amerikanische Seite ausfällt. Das heißt, wir dürfen der Nato nicht den Rücken kehren oder sie unterminieren, aber wir müssen daran arbeiten, dass es Ersatzkapazitäten gibt, einen Plan B sozusagen.
Die uns vertrauten "Watchdog"-Mechanismen greifen nicht mehr. Putin behauptete in China, die euro-atlantische Weltordnung sei am Ende. Gibt es Alternativen?
Die Welt kippt, wenn wir im sogenannten Westen - in der Gemeinschaft der gemeinsamen demokratischen Werte - nicht an einem Strang ziehen. Das ist die multipolare Welt, die Russland allen versprochen hat und die auch China möchte. In Wirklichkeit ist das jedoch eine Welt, in der "anything goes" gilt. Es gibt keine Strukturen, sondern die einzige Struktur ist Macht. Das ist die Herausforderung für die Europäer. Wir müssen unsere Werte beibehalten, aber auch lernen, Macht einzusetzen, um sie zu fördern.
Wer könnte Ihrer Meinung nach die europäische Achse stärken?
Es ist an der Zeit, über neue Allianzen nachzudenken. Ich finde es gar nicht so abwegig, darüber zu reden, ob Kanada tatsächlich der EU "beitritt", auch wenn es sich vielleicht seltsam anhört. Ob wir mit Australien, das eigentlich im Süden liegt, den neuen Westen zusammenbasteln. Oder mit Südkorea und Japan als westliches Bündnis agieren, obwohl sie im Fernen Osten liegen. Der Westen ist in diesem Sinne ja nicht mehr geografisch definiert, sondern durch Werte.
Im Mai haben Sie sich im Rahmen der Münchener Sicherheitsgruppe mit US-Vizepräsident JD Vance in Washington getroffen. Haben Sie Anknüpfungspunkte gefunden?
Das Problem ist, dass die Anknüpfungspunkte mit dieser Administration nicht von Dauer sind. Bei unserem Treffen hat Vance signalisiert, dass er Europa nicht als Feind sieht. Danach haben wir jedoch einen Handelsdeal bekommen, den wir in Brüssel und Straßburg als sehr problematisch ansehen. Der sieht für mich eher nach einer Erpressungsmaschine aus. Wir sehen, dass wir wegen unserer Digitalgesetze weiterhin unter Druck gesetzt werden und dass das Weiße Haus mit rechten und populistischen Kräften bei uns in Europa flirtet.
Haben Sie mit Vance über ein mögliches Treffen zwischen Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesprochen?
Damals war das nicht das Thema. Es ging darum, was aus der vehementen, unfreundlichen und interventionistischen Rede von München folgt. Vance hat versucht, uns zu vermitteln, dass sie nicht feindselig gemeint war. Aber nach allem, was ich seitdem erlebt habe, ist das Bild mindestens gemischt.
Halten Sie ein Putin-Selenskyj-Treffen überhaupt für realistisch?
Mittlerweile bin ich der Meinung, dass all das eine kommunikative Ablenkung seitens des Weißen Hauses ist, damit wir nicht über die realen Fortschritte sprechen. Die Abmachungen können auch auf einer niedrigeren Ebene als der von Putin und Selenskyj getroffen werden. Die Gewalt seitens Russlands muss aufhören. Die Bomben auf ukrainische Städte müssen aufhören. Und das ist das Wichtigste - nicht, ob sie sich irgendwann treffen oder nicht.
Russland hat Deutschland im Visier. Laut Correctiv überarbeitet die Bundeswehr aktuell die dritte Version ihres Operationsplans, um die lokale Einsatzbereitschaft zu verbessern. Ist das nicht zu langsam? Und wie steht es um die Digitalisierung des Zivilschutzes?
Wir brauchen eine digitale Ertüchtigung unserer Infrastruktur. Auch unsere Unterwasserkabel müssen geschützt werden. Insofern muss die Bundesregierung mit voller Entschlossenheit und Schnelligkeit handeln. Die Grünen haben sich auch dafür eingesetzt, dass die Sondervermögen dies mit einschließen. Es ist wichtig, dass die Investitionen auch in diesen Bereichen erfolgen und nicht ausschließlich in die Produktion von Panzern fließen.
Welche neuen Bedrohungen sehen Sie voraus?
Wir müssen uns darauf einstellen, dass die nächsten Kriege nicht wie die in Afghanistan oder im Irak aussehen werden. Vielleicht auch nicht wie die Anfangsphase des Ukrainekriegs. Irgendwann werden es nicht mehr "grüne Männchen" sein, sondern "grüne Drohnen", die wir nicht identifizieren können und die einfach bei uns auftauchen werden. Es ist also wichtig, dass wir uns nicht nach alten Regeln und Vorstellungen vorbereiten. Wir müssen daran arbeiten, unser Prognosevermögen um zwei, drei Schritte zu erweitern. Nur so werden wir im Zeitalter der Digitalisierung verteidigungsfähig bleiben.
Mit Sergey Lagodinsky sprach Ekaterina Venkina
Quelle: ntv.de