Fünf Lehren aus Kriegsjahr zwei "Wir müssen eine gut qualifizierte Reserve schaffen"
25.02.2024, 17:14 Uhr Artikel anhören
Beim Tag der Bundeswehr im Juni 2023 in München wurde Notfallmedizin der Bundeswehr vorgeführt: Soldaten bergen und versorgen einen verwundeten Kameraden.
(Foto: IMAGO/Sven Simon)
Das erste Kriegsjahr wurde von HIMARS-Raketenwerfern, alten deutschen Gepard-Panzern und hochmoderner Flugabwehr geprägt - vor allem aber von schnellen Offensiven. Die Situation im zweiten Jahr bestimmten andere Faktoren: Drohnen, von denen man manche auch im Baumarkt kaufen könnte, und lückenlose Aufklärung, die Bewegung an der Front enorm erschwert. Fünf Lehren aus dem zweiten Kriegsjahr.
1) Drohnen bestimmen das Schlachtfeld
Ist das noch dasselbe Gefechtsfeld? Im Herbst 2022 eroberten die ukrainischen Truppen in kurzer Zeit viel Land zurück durch schnelle, unerwartete Angriffe. Ein Jahr später scheint es nahezu unmöglich, den Gegner zu überraschen, und das gilt für beide Seiten. "Wir beobachten im Augenblick zwei bestimmende Trends auf dem Gefechtsfeld, die in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander stehen", sagt Generalmajor Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine, ntv.de. "Das eine ist der intensive Einsatz von Drohnen, nicht mehr als Einzelgeräte, sondern in Massen. Zudem sehen wir eine deutlich gestiegene Bedeutung der elektronischen Kampfführung."
Der massenweise Drohneneinsatz sorgt für eine Art "gläsernes Gefechtsfeld" - jede Bewegung wird sehr schnell von einer Drohne der Gegenseite aufgeklärt, so werden Angriffsversuche nahezu im Keim erstickt. Bewegung findet, wenn überhaupt, vor allem nachts statt. Drohnen werden aber auch im direkten Kampfgeschehen eingesetzt.
Kleine First-Person-View-Drohnen (FPV-Drohnen) - ursprünglich oft für den zivilen Gebrauch entwickelt - vermitteln dem Operateur via Bildschirm ein Eins-zu-eins-Bewusstsein für die Situation vor Ort. Versehen mit Sprengstoff können sie feindliche Stellungen und Schiffe angreifen. "Drohnen sind auch sehr gut in der Panzerabwehr", sagt Sicherheitsexperte Gustav Gressel. "Wenn die Russen einen mechanisierten Angriff vortragen, erkennen ukrainische Drohnen den meistens schon, wenn die Panzer noch auf dem Weg in die Sturmausgangsstellung sind." Einen Kampfpanzer setzt eine FPV-Drohne zwar nur vorübergehend und nicht endgültig außer Gefecht. Doch ist er manövrierunfähig, so kann er anschließend als stehendes Ziel sehr treffsicher mit Artillerie zerstört werden.
Während die ukrainischen Truppen die ersten waren, die Drohnen so erfolgreich in ihre Kriegsführung integrierten, hat Russland inzwischen seine Produktion hochgefahren und die Ukrainer in der Menge deutlich überholt. Die ukrainischen Hersteller beziehen ihre Bauteile derzeit noch hauptsächlich aus China; das ist problematisch. Peking handhabt seine Ausfuhr in die Ukraine immer restriktiver, darum kämpfen die Produzenten mit einem Mangel an Komponenten. Inzwischen streben die westlichen Unterstützer an, die eigene Produktion - auch für die Ukraine - stark auszuweiten.
Hierfür hat die Bundeswehr eine "Task Force Drohnen" eingerichtet mit dem Ziel, verschiedene Typen möglichst schnell auch in der Bundeswehr zu etablieren und die Soldaten daran auszubilden. Auch auf europäischer Ebene werden Drohnen inzwischen in den Blick genommen. Innerhalb der Aufteilung von Zuständigkeiten für die Ukraine-Unterstützung haben die baltischen Staaten den IT-Sektor übernommen. Sie bemühen sich um Finanzmittel für europäische Drohnenproduktion und die Herstellung von Komponenten für die ukrainischen Produzenten.
2) Elektronische Kampfführung und Programmierung werden wichtiger
Bei der elektronischen Kampfführung wird im elektromagnetischen Spektrum gearbeitet, das umfasst elektromagnetische Wellen, Radarwellen, Radiowellen, auch Infrarotstrahlen. Sie dienen unter anderem dazu, den Gegner zu orten, ihn zu täuschen oder zu stören, aber auch zur Bekämpfung feindlicher Ziele.
Während Luftabwehrsysteme sich nicht eignen, um kleine FPV-Drohnen abzuwehren, da diese zu massiv auftreten und die Abwehrmunition viel zu teuer ist, kommt elektronischer Kampfführung hier eine hohe Bedeutung zu, etwa mit Störsendern. Der Funksender unterbricht das Kommandosignal des gegnerischen Operateurs an sein Fluggerät. Die Drohne funktioniert zwar noch, bekommt aber keine Information mehr, was sie tun soll. "Die meisten russischen Panzer haben jetzt bereits einen Nahstörer integriert", erklärt Gressel, der am European Council on Foreign Relations forscht. "Auf den letzten 50 Metern vor Erreichen des Panzers kann der Operateur dann nicht mehr sehen, wie die Drohne fliegt."
In der derzeitigen Waffenentwicklung geht es deshalb auch darum, den Effekt der Funkstörung einzudämmen. Dazu kann man die Drohnen mittels Software unabhängig machen. Konnte dem Gerät zu Beginn einprogrammiert werden, welches Ziel es angreifen soll, dann kann es den Angriff auch ausführen, wenn der Kontakt zum Operateur gestört ist. "Dann allerdings muss die Drohne auch so gut programmiert sein, dass sie selbstständig unterscheiden kann: Was ist das anvisierte Objekt und was ist der Baum dahinter?"
Während sich auf dem Schlachtfeld in der Ukraine die Gegner derzeit oft bewegungslos gegenüberstehen, tobt im Hintergrund ein ständiger Wettkampf. "Der Entwicklungszyklus für solche Maßnahmen ist sehr kurz", erklärt Gressel. "Ein Programm, das eine Drohne immun gegen Kaperung und Störung macht, kann binnen zwei Wochen schon wieder obsolet sein."
Hier sind die ukrainischen Hersteller eher gefragt, da sie den direkteren Draht in die Truppe haben - etwa, um sich Daten bereitstellen zu lassen, anhand derer man den Schaden analysieren und Abwehrlösungen suchen kann. Die Bürokratie in westlichen Ländern käme erschwerend hinzu. Auch kann die ukrainische Industrie hier auf Grundfähigkeiten zurückgreifen, weil sie vor dem Krieg bereits einen blühenden IT-Sektor hatte. In Deutschland ist das nicht der Fall, hier gilt es verlorene Zeit aufzuholen.
3) Zeit ist ein entscheidender Faktor
Nach dem 24. Februar 2022 lief die Unterstützung für die Ukraine in den westlichen Staaten an, doch kaum etwas kam zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ukrainer es angefordert hatten. Viele Waffen mussten erst instand gesetzt werden, Logistik war sicherzustellen, der Prozess der politischen Entscheidungsfindung kam noch hinzu. Wenn die Ukrainer im ersten Kriegsjahr solche Verspätungen noch durch Kampfeswillen auszugleichen schienen, so zeigte das zweite Kriegsjahr ganz deutlich das Ende der Fahnenstange.
Weil Kiews Truppen erst auf schwere westliche Waffen und den Abschluss der Ausbildung daran warten mussten, wurde die Frühjahrs- zur Sommeroffensive. Inzwischen jedoch hatten sich die Russen in ihren Stellungen so gut eingegraben, dass den Ukrainern kein Durchbruch mehr gelang. Mit der gescheiterten Gegenoffensive wurde klar: Es ist nicht egal, ob die Panzerlieferung vier Monate früher oder später kommt.
Aktuell leiden die Soldaten, weil die westlichen Länder auch in puncto Munition die Zeit aus den Augen verloren hatten - und das Risiko, dass die USA als mit Abstand stärkste Unterstützer vorzeitig ausfallen könnten. Das ist nun der Fall. Die Europäer kratzen ihre letzte Munition zusammen, weil die Produktion nicht rechtzeitig skaliert wurde.
Eine Lehre, die sich daher schon jetzt aus dem Krieg ziehen lässt: Es reicht nicht, sich Gedanken zu machen, wenn ein Ernstfall eingetreten ist. "Im Fall des Falles hätten wir keine Zeit. Wir müssen schnell und vorbereitet sein", sagt Generalmajor Freuding.
Vorbereiten kann man sich auf unterschiedliche Weise: Für den Bereich Munition kann das bedeuten, Fertigungskapazitäten vorzuhalten, auch wenn diese nicht komplett ausgelastet sind. Auf kleiner Flamme kann eine Produktionsstraße in Betrieb gehalten werden, damit sie im Kriegsfall mit minimalem Zeitaufwand die Fertigung massiv hochfährt. Die NATO-Staaten haben sich auf die Regel geeinigt, dass jedes Mitgliedsland Munition für 30 Tage vorhalten soll. Abgesehen davon, dass diese Forderung kaum ein NATO-Land erfüllt: Die Regierungen müssen in den Blick nehmen, womit ihre Armeen ab Tag 31 weiterkämpfen.
4) Auf die Reserve kommt es an
"Eine weitere Erkenntnis aus diesem Krieg ist, dass wir auch lange durchhaltefähig sein müssen", sagt General Freuding. "Wir müssen also Vorräte schaffen, Produktionskapazitäten erhöhen, aber auch Vorsorge dafür tragen, dass wir personell langfristig durchhaltefähig wären."
Doch ein solches Durchhalten auf lange Sicht ist mit einer regulären Armee allein nicht zu schaffen. "Wir müssen eine gut qualifizierte und im Umfang ausreichende Reserve schaffen", lautet Freudings Position. Er plädiert für eine Reserve, die auch so ausgestattet ist, dass sie in lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen erfolgreich sein kann. "Wenn wir die Dauer des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine betrachten, müssen wir uns überlegen, wie wir die Größenordnungen hier noch steigern können."
Konkret heißt das: Es reicht nicht, den Fokus nur darauf zu legen, wie die Bundeswehr von 183.000 auf 203.000 Kräfte wachsen kann. Ebenso müssen neue Reservestrukturen geschaffen werden, denn die zweite und dritte Welle in einem langen Krieg wird von Reservekräften bestritten. Vom Aufwand her betrachtet erscheint ein solches Projekt beinahe noch größer als die Erweiterung der Bundeswehr selbst. Vielleicht hat man deshalb bislang aus der Politik noch wenig dazu gehört. Ein Blick in die nördlichen Länder, die mit diesen Fragen schon seit Jahrzehnten beschäftigt sind, lohnt auch hier. Verteidigungsminister Boris Pistorius plant eine Skandinavien-Reise für Anfang März.
5) Die NATO muss mehr tun
Auch wenn die Regierungen der NATO-Mitgliedsländer derzeit noch mit Krisenmanagement beschäftigt sind und die Munitionssuche TOP 1 auf der To-do-Liste ist: Auch politische Lehren müssen aus zwei Jahren Krieg gezogen werden. Das Verteidigungsbündnis "muss endlich anfangen", intern eine breit gefasste, "robuste und gezielte Eindämmungsstrategie auf den Weg zu bringen. Darauf ausgerichtet, den Aktionsradius des russischen Regimes systematisch zu reduzieren und langfristig - am besten - zu eliminieren", sagt die langjährige NATO-Strategin Stefanie Babst.
Zu einer solchen Strategie gehört auch eine konkrete Beitrittsperspektive für die Ukraine, die viele Mitgliedstaaten eher als einen Akt der Solidarität denn als einen Schritt in ihrem eigenen Interesse sehen. Langfristig wird die Ukraine jedoch nicht noch einmal darauf verzichten, auch nuklear vor Russland geschützt zu sein. Der Krieg hat Kiews Abgabe der alten Sowjet-Atomwaffen in den 1990ern aus ukrainischer Sicht als Fehler entlarvt. Nun müsste das Land die Zusage erhalten, absehbar unter den nuklearen Schutzschild der NATO zu kommen. Denn eigene atomare Aufrüstung der Ukraine kann nicht im Sinne der Partnerländer sein. "Die NATO sollte möglichst rasch Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beginnen", sagt Babst ntv.de. "Das wäre ein starkes strategisches Signal an Putin."
Überdies wäre es auch ein Signal an die internationale Wirtschaft, die nicht ins Land geht, solange Sicherheit und Frieden nicht gewährleistet sind. Je mehr aber Firmen in der Ukraine investieren, desto schneller wird Kiew unabhängig von den Finanzspritzen der Partnerländer.
Die Strategin Babst plädiert dafür, sich auch auf Szenarien vorzubereiten, die jetzt nur als eine Option unter mehreren erscheinen. Sollte der Krieg etwa an einer Grenze entlang der russisch besetzten Gebiete zum Stillstand kommen, stellt sich für sie die Frage, wer die Ukraine bei der Grenzsicherung unterstützt. "Nach meiner Einschätzung könnte das nur mit einer irgendwie gestalteten westlichen Militärpräsenz gehen, vielleicht einer Koalition der Willigen unter UN-Flagge." Trotz etlicher theoretischer Optionen sollten laut Babst gedankliche Vorbereitungen schon jetzt diskret zwischen den Verbündeten besprochen werden. "Dieses Szenario einfach auszublenden und zu hoffen, die Ukrainer würden das schon irgendwie selbst schaffen, ist strategisch ignorant."
Quelle: ntv.de