Politik

Interview mit Selenskyj-Berater "Wir wünschen uns, dass Deutschland schneller handelt"

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Graffiti des italienischen Künstlers Salvatore Benintende in Barcelona. Das Bild trägt den Titel "Der Traum".

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Autoritäre Systeme werden nicht friedlich abgelöst, sagt der ukrainische Präsidentenberater Alexander Rodnyansky. "Wenn es in Russland zu innenpolitischen Turbulenzen kommt, dann gibt es für das Regime andere Prioritäten als den Krieg, dann muss der Brand in Russland gelöscht werden. Mit einem Handelsembargo wird ein solches Szenario viel wahrscheinlicher, deshalb ist es so wichtig."

Dass eine Bewegung wie die der Soldatenmütter breiten Protest in Russland organisiert, glaubt Rodnyansky nicht. "Das Regime achtet sehr darauf, dass niemand die Wahrheit erfährt. Die Leichen der russischen Soldaten werden verbrannt, dafür werden sogar mobile Krematorien eingesetzt. Aber die funktionieren anscheinend nicht so gut - zumindest haben wir am Sonntag Gerüchte gehört, dass die Leichen in Schmelzöfen verbrannt werden."

ntv.de: Hallo Herr Rodnyansky, Sie waren vor ein paar Tagen noch in Berlin, sind Sie jetzt wieder in Kiew?

Alexander Rodnyansky: Ich bin noch in Deutschland, aber ich fahre bald wieder in die Ukraine.

Wie belastend ist für Sie die Gefahr, der Sie dort ausgesetzt sind?

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Alexander Rodnyansky ist in Kiew zur Welt gekommen, hat bis zum Abitur in Deutschland gelebt, in Princeton promoviert und lehrt seit 2017 Ökonomie in Cambridge. Seit 2019 berät er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

(Foto: picture alliance/dpa/WDR)

Ich bin mir der Risiken bewusst. Das ist schon unangenehm, klar. Aber wir müssen uns auf die Arbeit konzentrieren. Es gibt einiges zu tun.

Präsident Selenskyj hat in einer Rede beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche alle Mitgliedsländer einzeln angesprochen, bei den meisten sagte er, dass diese Länder die Ukraine unterstützen. Als Deutschland an die Reihe kam, machte er eine Pause und sagte: "Ein bisschen später." Was hat er damit gemeint?

Er hat damit wohl gemeint, dass es lange holprig lief mit der Unterstützung. Zum Beispiel haben wir aus Deutschland zunächst keine Waffen bekommen. Das hat sich nach Beginn des russischen Überfalls geändert. Aber nach wie vor läuft es holprig mit dem Handelsembargo gegen russische Rohstoffe. Deutschland importiert weiterhin Öl, Gas und Kohle aus Russland. Wir wünschen uns, dass bei diesem Thema wenigstens etwas geschieht. Wenn die Bundesregierung schon nicht bereit ist, ein vollständiges Embargo zu verhängen, dann doch wenigstens eines für Öl oder einen stufenweisen Importstopp. Das war wohl der Gedanke hinter der Aussage.

Bundeskanzler Scholz sagt, die bestehenden Sanktionen seien darauf angelegt, möglichst großen Schaden in Russland anzurichten und möglichst geringen Schaden bei uns.

Die Kriterien sind nachvollziehbar. Ob sie erfüllt werden oder nicht, darüber kann man streiten. In der kurzfristigen Perspektive ist klar: Würde jetzt ein Embargo eingeführt, dann würde vieles teurer für die Bevölkerung und für die Industrie. Aber diese Perspektive blendet die mittel- und langfristigen Folgen aus. Es kann gut sein, dass die Kosten sehr viel höher ausfallen, wenn Deutschland keinen Importstopp verhängt - nicht nur mit Blick auf Menschenleben, auch ökonomisch.

Treffen Sie in Berlin auch Vertreter der Bundesregierung?

Ja, natürlich. Wir sprechen mit Abgeordneten und mit Regierungsmitgliedern. Wir reden viel und koordinieren das auch mit dem Botschafter. Da geschieht einiges.

Welche Hilfe oder Unterstützung, abgesehen vom Embargo, zu dem die Bundesregierung bislang nicht bereit ist, könnte Deutschland aus Ihrer Sicht noch leisten?

Zwei Themen sind zentral für uns. Das eine ist das Embargo, das andere ist alles, was mit Waffenlieferungen zu tun hat. Da gibt es Fortschritte, aber es ist natürlich ein brisantes Thema, deshalb wird da nicht alles offengelegt. Aber trotzdem: Wir wünschen uns, dass mehr geschieht und dass schneller gehandelt wird.

Parallel zu den Kämpfen in der Ukraine wird verhandelt, aktuell in der Türkei. Gab es bei den bisherigen Gesprächen irgendwelche Fortschritte?

Bei manchen Punkten kann man sich mehr oder weniger einigen, bei anderen Themen dagegen überhaupt nicht. Die Frage der Neutralität beispielsweise ist im Vergleich zu anderen Themen einfach - schon deshalb, weil die NATO uns faktisch längst eine Absage erteilt hat. Ohne NATO-Mitgliedschaft brauchen wir allerdings Sicherheitsgarantien, um als neutraler Staat existieren zu können. Ich glaube, hier kann es einen Kompromiss geben, der für alle akzeptabel ist. Bei anderen Themen ist es schwieriger, da besteht derzeit kaum Hoffnung. Etwa mit Blick auf die besetzten Gebiete, die Krim und den Donbass. Wir geben kein Territorium auf.

Könnte es eine Lösung geben, nach der diese Gebiete faktisch russisch bleiben, ohne dass die Ukraine dies anerkennt?

So etwas wird auch besprochen - den Status ungeklärt lassen, um das Thema in die ferne Zukunft zu schieben. Aber bisher gab es da keine Einigung, weil die russische Seite sehr stark darauf beharrt, dass diese Territorien von der Ukraine abgetrennt werden. Für uns ist das unakzeptabel.

Wird auch über eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union verhandelt?

Weniger, die EU wird bei den Gesprächen kaum erwähnt, es geht mehr um die besetzten Gebiete, die NATO und den Status der russischen Sprache. Das ist für Russland sehr wichtig, wahrscheinlich, weil sie etwas brauchen, das sie zuhause als Erfolg verkaufen können. Auch bei der sogenannten Entnazifizierung und bei der Entmilitarisierung ist uns nicht klar, was sie damit eigentlich meinen. Das sind die Themen, die besprochen werden. Um die EU geht es weniger.

Ist das nicht seltsam? Am Beginn des Konflikts 2013 stand ja der Wunsch der Ukraine, mit der EU ein Assoziierungsabkommen zu schießen. Eine prosperierende Ukraine könnte aus russischer Sicht als Gefahr gesehen werden, weil sie den Russen zeigen würde, was ihnen entgeht.

Wahrscheinlich hat Russland sich damit abgefunden, dass es nicht mehr so viel verlangen kann wie 2013. Aber ja, in gewisser Hinsicht ist es ein Anzeichen dafür, dass die russische Verhandlungsposition in den letzten zehn Jahren nicht besser geworden ist.

Was, glauben Sie, ist Putins Ziel in diesem Krieg?

Was er sich als allerletztes Ziel an die Tafel geschrieben hat, das weiß ich nicht. Anfangs konnte man davon ausgehen, dass Putin die Kontrolle über die Ukraine gewinnen und die Integrationsprozesse mit dem Westen sabotieren will. Es ist möglich, dass er diese Ziele weiterhin verfolgt, auch wenn das nicht realistisch ist. Vielleicht ist es an der Zeit für ihn, das zu verstehen, vielleicht versteht er es auch langsam. Aber der Krieg läuft nach wie vor, deshalb müssen wir davon ausgehen, dass seine Ziele sich bislang nicht großartig verändert haben.

Ihre Muttersprache ist Russisch. Wie gut kennen Sie Russland, was denken Sie jetzt über das Land?

Ich war viel in Russland und habe dort Verwandte und Freunde. Was ich über Russland denke? Über das Regime nichts Gutes, schon seit Jahren nicht. Und die Menschen in Russland - viele tun mir leid, aber man muss ehrlich sagen, dass es eine Verantwortung der russischen Gesellschaft für diesen Krieg gibt, die man nicht wegreden kann. Irgendwie wird die russische Bevölkerung wiedergutmachen müssen, was uns jetzt angetan wird. Das wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.

Wird die Ukraine nach dem Krieg Reparationen von Russland fordern?

Es wird entsprechende Forderungen geben. Aber es ist noch zu früh, darüber zu sprechen.

Sprechen Sie mit Partnern in der EU über dieses Thema? Etwa darüber, dass die Sanktionen nicht beendet werden sollten, bevor Russland Reparationen gezahlt hat?

Es wird darüber gesprochen. Aber vor allem wird derzeit ein Erneuerungsfonds besprochen, um die Ukraine nach dem Krieg wiederaufzubauen. Da gibt es bereits Initiativen und Pläne. Bevor wir mit Russland über Reparationen sprechen, müsste sich die russische Politik fundamental wandeln.

Gibt es ein konkretes Szenario, das Präsident Selenskyj in diesem Krieg anstrebt?

Wir wollen den Krieg natürlich gewinnen. Und bis jetzt sieht es ganz gut aus. Die russische Seite hat bislang keines ihrer Ziele erreicht. Wir verteidigen weiter unser Land. Das ist ein Erfolg für uns, den kaum jemand erwartet hätte. Wir wollen unser Land verteidigen, die besetzten Gebiete zurückbekommen und unsere Unabhängigkeit bewahren. Andere Ziele gibt es nicht.

Können Sie sich vorstellen, dass Putin seine Armee aus der Ukraine abzieht und aufhört, Wohngebiete und Krankenhäuser zu bombardieren?

Ja, das können wir uns vorstellen. Aber dafür braucht es noch sehr viel Druck auf Russland. Es ist klar, dass der Krieg erst endet, wenn die Krise in Russland sehr akut wird, wenn das Regime kein Geld mehr hat, um weiter Krieg zu führen. Deswegen fordern ja auch viele und natürlich wir an erster Stelle das Handelsembargo auf Rohstoffe.

Man muss verstehen: Ein Handelsembargo würde Putins Regime aus dem Gleichgewicht bringen. Autoritäre Systeme werden nicht friedlich abgelöst. Wenn es aber in Russland zu innenpolitischen Turbulenzen kommt, dann gibt es für das Regime andere Prioritäten als den Krieg, dann muss der Brand in Russland gelöscht werden. Mit einem Handelsembargo wird ein solches Szenario viel wahrscheinlicher, deshalb ist es so wichtig.

Nach Angaben der ukrainischen Armee haben bereits 17.000 russische Soldaten ihr Leben verloren. Hoffen Sie noch darauf, dass in Russland eine Bewegung wie die der Soldatenmütter ihre Stimme erhebt?

Bislang ist das leider kaum passiert, anders als bei Kriegen etwa der USA im Irak oder in Afghanistan. Es gibt mehrere Gründe dafür. Erstens wurden die Truppen aus weit voneinander entfernten Gebieten Russlands zusammengezogen, und zweitens gibt es keine funktionierende Zivilgesellschaft. Die Medienlandschaft ist mittlerweile vollkommen zerstört. Es gibt nicht mal mehr Instagram. Da ist es schwierig, eine Vernetzung herzustellen oder gar eine Bewegung zu organisieren. Und drittens achtet das Regime sehr darauf, dass niemand die Wahrheit erfährt. Die Leichen der russischen Soldaten werden verbrannt, dafür werden sogar mobile Krematorien eingesetzt. Aber die funktionieren anscheinend nicht so gut - zumindest haben wir am Sonntag Gerüchte gehört, dass die Leichen in Schmelzöfen verbrannt werden, in Rostow beispielsweise. Niemand soll erfahren, wie viele russische Soldaten gestorben sind. Die Angehörigen sollen so lange wie möglich hoffen, dass ihre Söhne, Ehemänner und Väter noch am Leben sind.

Es gibt Berichte, dass Ukrainer aus dem Luftschutzkeller bei Freunden und Verwandten in Russland anrufen, die ihnen dann erklären, dass Russland gar keinen Krieg gegen die Ukraine führt. Haben Sie so etwas auch erlebt?

Ja, zu Beginn des Krieges. Das war ein Verwandter, der sogar in Deutschland lebt und russische Propaganda konsumiert. Er wollte mir nicht glauben, dass es Luftangriffe auf Kiew gibt. Das war schon sehr frustrierend. Da fragt man sich, wieso diese Propagandakanäle in Deutschland so lange geduldet wurden.

Mit Alexander Rodnyansky sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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