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Kiews Schicksal hängt an den USA Welche Waffen die Ukraine jetzt braucht

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Die Boden-Boden-Raketen ATACMS aus den USA könnten empfindliche Logistik- und Knotenpunkte der Russen treffen.

Die Boden-Boden-Raketen ATACMS aus den USA könnten empfindliche Logistik- und Knotenpunkte der Russen treffen.

(Foto: picture alliance / Photoshot)

Die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine bröckelt. Und auch in Europa sieht es nicht gut aus. Wenn die Ukraine im nächsten Jahr nicht kapitulieren soll, braucht sie neue Munition und Waffen. Ein Überblick.

Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj könnte es der wichtigste USA-Besuch seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sein. Die Offensive der ukrainischen Armee ist gescheitert und die Munitions- und Waffenbestände aus dem Westen sind beinahe aufgebraucht. Am Montag traf Selenskyj deshalb in Washington ein, um bei einem Treffen mit Präsident Joe Biden und dem Kongress über das weitere Vorgehen der ukrainischen Militärführung und westliche Unterstützung zu sprechen.

Der Besuch ist dringend notwendig. Ohne eine neue Strategie und zusätzliche Mittel könnte die Ukraine den Krieg verlieren, sind sich Vertreter der US-Regierung und ukrainische Offiziere einig. Wie die Strategie aussehen soll, darüber gehen die Meinung auseinander: Während die USA auf eine zurückhaltende Strategie pochen, die sich darauf konzentriert, dass sich die Ukrainer eingraben, um für das kommende Jahr Vorräte und Streitkräfte aufzubauen, wollen die Ukrainer zum erneuten Angriff übergehen.

Beim US-Militär gibt es einem Bericht der "New York Times" zufolge einige, die wollen, dass die Ukraine eine "Halten-und-Aufbau"-Strategie verfolgt. Kiew solle sich darauf konzentrieren, Territorium zu halten und die eigene Fähigkeit zur Waffenproduktion im Jahr 2024 auszubauen. Diese Rechnung dürfte aber über längere Zeit für die Ukraine nicht aufgehen. Ein solcher Abnutzungskrieg, bei dem beide Seiten keine Geländegewinne machen, aber hohe Verluste unter den Soldaten und bei der Munition hinnehmen müssen - davon profitiert am Ende nur Russland.

Neben einer großen Eigenproduktion an Munition bekommt Russland Hilfe von Nordkorea und dem Iran. Trotz Beschwerden über Qualitätsmängel bei der Lieferung von einer Million Artilleriegranaten aus Nordkorea macht Russland bereits seit Kriegsbeginn Qualität mit Quantität wett. Pro Tag verbrauchen die russischen Truppen etwa 16.000 bis 20.000 Schuss Artilleriegranaten, die sie auf ukrainische Truppen abfeuern.

Auf ukrainischer Seite sind die Zahlen deutlich geringer: Pro Tag verschießen sie zwischen 4000 und 8000 Artilleriegranaten. Im Gegensatz zu Russland muss die Ukraine sparsam mit ihrer Munition umgehen. Statt der versprochenen einer Million Schuss Munition aus dem Westen hat die Ukraine bisher nur knapp 300.000 bekommen. Rechnet man mit durchschnittlich 5000 Einheiten pro Tag, reicht das vorhandene Kontingent noch für maximal zwei Monate.

Aufgrund der russischen Überlegenheit von sowohl bei der Munition als auch bei der Anzahl von Soldaten, muss das Ziel der Ukraine sein, die Versorgungslinien der Russen konsequent zu unterbrechen oder ganz abzuschneiden. Nur so lasse sich ein nachhaltiger Effekt an der Front erzielen, sagt Oberst Markus Reisner ntv.de. "Es ist immer besser, in der Tiefe anzugreifen und die Logistikknotenpunkte oder Kommandostrukturen zu treffen." Was die Ukraine deshalb neben Munition aus dem Westen braucht, sind eine Reihe von Waffen, um den Angriffen der Russen auch im nächsten Jahr noch standhalten zu können. Ein Überblick:

1. Fliegerabwehr

Das größte Problem, mit dem die Ukraine von Anfang an zu kämpfen hat, ist eine funktionierende Luftwaffe. Durch die erst fehlende und dann zögerliche Zusage und Lieferung von F-16 und anderen Kampfjets hat Russland bis jetzt weitgehend die Lufthoheit im Osten der Ukraine. Das führt gleich zu mehreren Problemen.

Gemeinsam mit Fliegerabwehrsystemen werden Kampfjets für den Schutz des ganzen Landes benötigt. "Erst dann ist die Ukraine in der Lage, die militärische Produktion anzuwerfen, die sie benötigt, um die Truppen an der Front zu versorgen", sagt Reisner. Jetzt im Winter brauche die Ukraine vor allem Fliegerabwehrsysteme, um sich gegen die erwartbaren russischen Angriffe mit iranischen Drohnen und Marschflugkörpern zu wehren. Und wenn Kiew im nächsten Jahr zu einer neuen Offensive ansetzen will, geht das nur, wenn die Ukraine die Lufthoheit im Osten erkämpft.

Die ersten Bauteile von F-16 sollen bereits geliefert worden sein, bislang sind Kampfjets dieses Typs aber noch nicht im Einsatz. Anfang nächsten Jahres sollen weitere dazu kommen. Vor wenigen Tagen wurde zudem bekannt, dass die ukrainische Militärführung mit Schweden über eine Lieferung von Jets vom Typ Gripen verhandelt. Das Mehrzweck-Kampfflugzeug des schwedischen Herstellers Saab, das Mitte der 1990er-Jahre in Dienst gestellt wurde, hätte gegenüber den F-16 den Vorteil, dass es in der Lage ist, unter anspruchsvollen Bedingungen zu operieren: zum Beispiel kann das Flugzeug bei extremem Winterwetter eingesetzt werden und auch von schlechten und kurzen Pisten, wie etwa Autobahnabschnitten, starten.

2. Boden-Boden-Raketen

Um der Ukraine kurzfristig zu helfen, müsste der Westen weitere Boden-Boden-Systeme und Luft-Boden-Systeme von mittlerer bis hohe Reichweite liefern. Ein Beispiel wären die in den USA produzierten ATACMS, die von HIMARS-Systemen abgefeuert werden können. Davon hat die Ukraine bereits im Sommer etwa 20 bis 30 Stück bekommen, mit denen spektakuläre Erfolge gegen russische Hubschrauber, Landeplätze und Absprungplätze gelungen sind. Oder auch die bereits angekündigte Lieferung der Ground-Launched Small Diameter Bombs (GLSDB), bei der es allerdings eine Verzögerung bis ins nächste Jahr gibt.

Laut Reisner wären die ATACMS ideal, um russischen Kommandostrukturen und vor allem die Logistik zu treffen. Das habe eine viel größere Wirkung, als an der Front russische Soldaten anzugreifen. Seit den Angriffen vor wenigen Monaten hat man allerdings keine Angriffe mehr gesehen, was darauf hindeutet, dass sie möglicherweise aufgebraucht sind.

3. Marschflugkörper Taurus

Bereits im Mai hatte die Ukraine die Bundesregierung um die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus gebeten. Fünf Monate lang reagierte Bundeskanzler Olaf Scholz auf die Bitte aus Kiew nicht, dann kam im Oktober die Absage.

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Mit einer Reichweite von 500 Kilometern würde der Taurus es der Ukraine ermöglichen, Russland an empfindlichen Logistik- und Knotenpunkten wie beispielsweise der Kertsch-Brücke anzugreifen. Die bereits gelieferten französischen und britischen Systeme Scalp und Storm Shadow, die ebenfalls bis zur Krim fliegen können, sind bunkerbrechende Raketen, die die Brücke zwar beschädigt haben, aber nicht komplett zerstören konnten. Um die Versorgungslinien der Russen nachhaltig zu kappen, ist eine Zerstörung von Straßen- oder Schienennetzen unerlässlich.

Zudem ist der Taurus laut Hersteller besonders resistent gegen Störversuche im elektromagnetischen Feld. Im Gegensatz zu Scalp oder Storm Shadow ist die Mittelstreckenrakete nicht auf GPS angewiesen, was ihn gegen russische Störattacken unempfindlich macht.

4. Drohnenabwehr

Womit die Ukraine ebenfalls schwer zu kämpfen hat, ist die Masse an russischen First-Person-View-Drohnen. Für die russischen Truppen entsteht daraus ein gläsernes Gefechtsfeld, auf dem sie jede Bewegung des Gegners zu jeder Tag- und Nachtzeit erfassen können. Das führt nicht nur dazu, dass sich ukrainische Soldaten kaum noch unbemerkt bewegen oder bei den niedrigen Temperaturen ein Feuer anmachen können, ohne einem sofortigen Artillerie-Angriff ausgesetzt zu sein.

Auch Streitkräfte auszutauschen, verletzte Soldaten von der Front abzutransportieren und sie mit Munition, Essen und Wasser zu versorgen, passiert häufig unter Verlusten. Die dramatischen Folgen lassen sich am Brückenkopf Krynky sehen, wo Soldaten den Dnipro nachts nicht mehr unbemerkt überqueren können, da die Kamikaze- und First-Person-View-Drohnen mit Wärmebildkameras ausgestattet sind, die selbst im Dunkeln jede Bewegung wahrnehmen.

Um dem entgegenzuwirken, muss die Ukraine das elektronische Feld der Russen stören. Dafür werden Störsysteme eingesetzt, die das elektromagnetische Spektrum und damit die Funkkommunikation einschränken. Beide Seiten haben solche Störer in den vergangenen Monaten sehr erfolgreich eingesetzt, um die Kommunikation untereinander zu stören und die Drohnenfunktion einzuschränken.

Ein Beispiel für ein solches ist System, ist das ReDrone Counter Unmanned Aerial Systems (C-UAS). Das System kann feindliche unbemannte Flugobjekte (UAS) tagsüber und nachts sowohl in städtischen als auch ländlichen Umgebungen und unter verschiedenen Wetterbedingungen erkennen, identifizieren, lokalisieren, verfolgen und neutralisieren.

Minimalforderung für Defensive

Was die Ukraine davon erhält und in welcher Stückzahl, liegt in den Händen des US-Kongresses und von Präsident Biden. Die Frage sei nun, ob die US-Regierung Möglichkeiten finde, ohne das Parlament Gelder aufzutreiben, sagte der Militärexperte Christian Mölling dem "Stern". Wenn dies nicht gelinge, laufe man "in eine Lücke in der Finanzierung der Unterstützung", so der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Eine Chance, dass die Europäer den Ausfall amerikanischer Hilfen kompensieren könnten, sieht Mölling nicht. Das liegt nicht zuletzt an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der gemeinsame Entscheidungen behindert. Verbündete Orbáns sollen in Washington ein Treffen hinter verschlossenen Türen mit Republikanern abhalten, um auf ein Ende der US-Militärhilfe für die Ukraine zu drängen, meldet der britische "Guardian".

Russland nutzt die bröckelnde Unterstützung bereits aus, um die Ukraine in die Defensive zu drängen. Die Waffen, die die Ukraine jetzt dringend braucht, sind daher laut Reisner nur die Minimalanforderungen, um die Frontlinie in der Defensive zu halten. Wenn die Ukraine im nächsten Jahr wieder in die Offensive gehen will, braucht sie noch mehr - neue Kampfpanzer, Schützenpanzer und Artillerie beispielsweise. Darauf kann Kiew momentan allerdings eher nicht hoffen. Bislang haben die Lieferungen aus den USA und Europa vor allem zum Überleben gereicht, aber nicht zum Gewinnen, wie die letzten Monate eindrücklich gezeigt haben.

Quelle: ntv.de

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