Anschläge in Istanbul "Wer Gewalt sät, der wird Gewalt ernten"
07.06.2016, 20:53 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)

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Schon wieder wird das Zentrum von Istanbul Ziel eines Sprengstoffanschlags. Mindestens elf Menschen sterben, als an einer Busstation eine Bombe explodiert. Die deutsche Presse zieht Parallelen zu anderen Krisenherden und erkennt: Die Regierung in Ankara trage durch die Aufgabe des Friedensprozesses mit den Kurden und ihrer Syrienpolitik eine gewisse Teilschuld.
Die Heilbronner Stimme sieht die Türkei auf den Listen globaler Terrorattacken inzwischen häufiger als den Irak, Syrien, Pakistan oder Jemen. Neben der Terrormiliz Islamischer Staat trage die kurdische Arbeiterpartei PKK dafür die Verantwortung. "Der Friedensprozess mit der Türkei ist am Ende, die Gewaltspirale hat eine Dynamik erreicht, aus der in absehbarer Zeit kein Entkommen möglich scheint", konstatiert das Blatt.
Die Kommentatoren des Kölner Stadt-Anzeigers sehen den Terror nicht ohne Anlass über das Land ziehen. Mit der verantwortungslosen Aufgabe des Friedensprozesses mit den Kurden und der verhängnisvollen Syrienpolitik trage Staatspräsident Erdogan und die ihm hörige Regierung in Ankara ein gehöriges Maß Schuld daran, schreibt das Blatt. "Wer Gewalt sät, der wird Gewalt ernten, heißt es sinngemäß in der Bibel. Wer kurdische Städte in Trümmer legt, muss mit den Folgen leben." Es sei ein Jammer anzusehen, wie die Türkei sich ins Chaos lenke, urteilt die Zeitung. "Urlaubern muss man leider sagen: Wer jetzt noch Ferien in der Türkei macht, tut das auf eigene Gefahr."
Die Nürnberger Nachrichten vergleichen die Situation in der Türkei mit einem anderen Krisenherd. "In der Türkei fehlt - anders als etwa in Nordirland - die Entschlossenheit auf beiden Seiten, die Waffen ein für alle Mal schweigen zu lassen." Waffenruhen wurden im Kurdenkonflikt bisher stets als taktisches Mittel eingesetzt - die Gewalt gelte nach wie vor als Ultima Ratio. So lange sich an diesem Denken nichts ändere, könne die Spirale der Gewalt nicht durchbrochen werden, gibt die Zeitung zu bedenken. "Wenn Erdogan nach dem jüngsten Anschlag ankündigt, die Täter würden bezahlen, deutet er damit neue Militäroperationen im Kurdengebiet an. Im Internet schreien nationalistische Türken nach Rache. Schon 2015 forderte ein nationalistischer Mob in Istanbul bei einer Demonstration ein 'Massaker' an den Kurden." Von einer neuen Friedenspolitik sei die Türkei weiter entfernt als je zuvor. Der heutige Anschlag dürfte nicht der letzte gewesen sein, spekulieren die Kommentatoren.
Die Märkische Allgemeine erkennt in den wiederkehrenden Anschlägen ein strukturelles Problem. "Wie andere autoritäre Herrscher auch kündigt Erdogan immer wieder an, den Terror mit besonders starker Hand zu bekämpfen. Erstaunlicherweise aber erweisen sich gerade die autoritären Strukturen im Land dabei als nicht besonders effektiv." Die Türkei habe härtere Anti-Terror-Gesetze als alle Länder Europas und konnte trotzdem die Terrorserie nicht verhindern, resümiert das Blatt. "Zusammenhalt eines Landes lässt sich nicht erreichen durch großspuriges Auftreten des Präsidenten und durch Propagandaschlachten über die Deutung historischer Ereignisse." Wenn die Türkei gegen den Terror zusammenrücken wolle, dann müsse Gewissheit herrschen, dass ihr Staatsführer kein politisches Kapital aus Bombenanschlägen schlagen will.
Nicht nur ein gewaltiges außenpolitisches Problem bescheinigt die Rhein-Neckar-Zeitung Erdogan. Auch innenpolitisch stoße seine Herrschaft auf blutigen Widerstand. "Die Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden stürzte das Land in eine neue Spirale der Gewalt. Und selbst die härtesten Anti-Terror-Gesetze Europas konnten das Blutbad nicht beenden. Im Gegenteil: Die Kurden tragen den Krieg vom Osten des Landes in die westlichste Metropole der Türkei." Leidtragende seien aber in beiden Landesteilen vor allem die Zivilisten. Und der Blutzoll dürfte noch bei Weitem nicht erschöpft sein, befürchtet die Zeitung.
Neben Verständnis und Standfestigkeit benötige Europa vor allem auch einen langen Atem, erkennt der Fränkische Tag. "Denn weder Erdogan noch der radikale Arm der PKK - um vom IS erst gar nicht zu sprechen - sind derzeit an einer Lösung des Konflikts interessiert. Beiden nützt die bürgerkriegsähnliche Situation in Wirklichkeit ja." Sie immunisiere Erdogan gegen die Kritik an seinem Staatsumbau, der PKK stifte der zum Freiheitskampf verbrämte Terror Sinn und Gefolgschaft, schreibt das Blatt.
Quelle: ntv.de