
Obacht! Für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist noch einiges zu tun.
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Langsam wird es ernst: Wo steht die deutsche Fußball-Nationalmannschaft vor der Europameisterschaft im eigenen Land? Kann sie die euphorisierenden Leistungen aus den März-Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande bestätigen? Oder verfällt sie doch in alte Muster? Die beiden EM-Generalproben liefern erste Antworten.
Beim 0:0-Remis gegen die Ukraine stimmt zwar die Spielweise, aber nicht das Ergebnis; beim 2:1-Erfolg gegen Griechenland ist es genau umgekehrt. Beide Partien zeigen, wo Bundestrainer Julian Nagelsmann noch Probleme lösen muss - und was schon funktioniert. Sechs Beobachtungen nach den letzten beiden Testspielen vor dem Turnier.
Die Debatte, gegen die sich Nagelsmann wehrt
Pünktlich zum Turnierbeginn hat die Fußballnation mal wieder eine Torwartdiskussion. Mehr als 550 Tage war das letzte DFB-Spiel von Manuel Neuer her, bevor er gegen die Ukraine zurückkehrte. Hinter ihm liegen ein komplizierter Beinbruch, der lange Weg zum Comeback und eine wechselhafte Rückrunde beim FC Bayern. Deshalb blieb bis zuletzt eine Frage offen: In welcher Verfassung ist der mehrfache Welttorwart eigentlich gerade? Viel schlauer ist man nach den beiden Testspielen nicht.
Der 38-Jährige zeigte wieder ein ungewohntes Auf und Ab: Mal hielt er auf Weltklasseniveau, mal leistete er sich erstaunliche Patzer, die einem Torwart besser nicht passieren sollten. Gegen die Ukraine missglückte Neuer kurz vor Schluss ein Chip-Ball, der nicht bei Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt landete, sondern auf dem Kopf eines Gegenspielers. Beim 2:1-Erfolg gegen Griechenland ließ er einen harmlosen Schuss von Christos Tzolis nach vorn abprallen - der Abstauber führte zum 0:1-Rückstand. Einen nahezu identischen Fehler hatte er bereits im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid gemacht.
Dabei hilft nicht, dass hinter Neuer auch noch Marc-André ter Stegen mit den Hufen scharrt. Der Torwart vom FC Barcelona, der ebenfalls auf Weltklasseniveau unterwegs ist, deutete zuletzt an, dass er mit der Entscheidung des Bundestrainers nicht einverstanden ist, sie aber dennoch akzeptiere. ntv.de-Experte Ewald Lienen sagte, die Zeit sei ohnehin längst reif, ter Stegen eine Chance zu geben.
Und dennoch wird es nicht dazu kommen. "Ich lasse keine Diskussion aufkommen, auch wenn es jeder probiert", versuchte Nagelsmann am Freitagabend, alle Neuer-Debatten einzufangen. "Er hatte drei Weltklasseparaden, es ist alles in Ordnung." Mit Händen und Füßen wehrt sich der Bundestrainer gegen eine Torwartdebatte, die längst intensiv geführt wird. Beenden kann die nur Manuel Neuer selbst.
Zwei Spiele, zwei alte Probleme
Manchmal gibt es Geister, die lassen sich nicht aus den Kleidern schütteln. Spätestens seit der Wüsten-WM in Katar 2022 schleppt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ein Problem mit sich herum, was nicht zu verschwinden scheint: die Chancenverwertung. Und auch gegen die Ukraine spukte es weiter: Das DFB-Team schoss 27 Mal aufs Tor, kein Ball landete im Netz. Für ein Turnier ist das kein gutes Omen: Da kommt es am Ende auch darauf an, aus wenigen Chancen viel zu machen.
Hinzu kam in den beiden Testspielen noch ein weiteres Problem, was ein Überbleibsel aus der Ära von Ex-Bundestrainer Hansi Flick ist: die Fahrigkeit. Mal ist es ein völlig unnötig gefährlicher Querpass vor der eigenen Viererkette, mal ist die Konterabsicherung verblüffend locker. Besonders in der schwachen ersten Hälfte gegen Griechenland leistete sich das DFB-Team auffallend viele Ballverluste. Das 0:1 gegen Griechenland war das Ergebnis einer langen Fehlerkette: der gefährliche Pass auf Jamal Musiala, der unter Gegnerdruck stand und den Ball verliert, der fehlende Druck auf die griechischen Angreifer und dann schließlich der Neuer-Patzer. Das war wieder die Nationalelf, wie man sie in den vergangenen Jahren kannte.
Das große Luxusproblem
So mancher Nationalcoach würde den Bundestrainer darum beneiden: Nagelsmann hat so viel Auswahl im offensiven Mittelfeld, dass es unmöglich scheint, die richtige Entscheidung zu treffen. Florian Wirtz, Jamal Musiala, Leroy Sané, İlkay Gündoğan, Deniz Undav und Thomas Müller: Die Liste der potenziellen Startelf-Kandidaten ist lang, leider gibt es nur drei Plätze. Dabei ist das, was am Ende herauskommen soll, klar. Es geht vor allem darum, die beiden "Jahrhunderttalente" Wirtz und Musiala ins Zaubern zu bekommen. Nur, wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland (Freitag, 21 Uhr/ZDF, MagentaTV und im ntv.de-Liveticker) versprühte die DFB-Elf vor allem gegen Griechenland wenig Magie.
Das hat vor allem mit einer Personalie zu tun: Kapitän İlkay Gündoğan. Seine Rolle als Zehner hat gegen die tief stehende Ukraine noch gut funktioniert. Gündoğan spielte auf Sechzehnerhöhe und versuchte, Bälle auf Wirtz und Musiala zu verteilen. Gegen Griechenland präsentierten sich die Nachteile der Gündoğan-Lösung. Das Spiel des DFB-Teams war vor allem in der ersten Hälfte arg behäbig. Es fehlte an Tempo und Tiefe. Anders als Gündoğan sammelten Musiala und Wirtz zwar viele Ballkontakte, doch die meisten viel zu weit vom Sechzehner entfernt. Was fehlte, war jemand Schnelles auf den Flügeln, der für Raumgewinn sorgt.
Es ist nicht alles schlecht, Teil I
Es war irgendwann kurz vor Beginn der Weihnachtszeit, da fiel Bundestrainer Nagelsmann auf: So kann es nicht weitergehen. Der Entschluss fiel kurz nach den beiden desaströsen Testspielpleiten im November gegen Österreich (0:2) und die Türkei (2:3). Das Ergebnis seiner Analyse ist bekannt: Der Bundestrainer krempelte den Kader um, ein neues Rollenprinzip hielt Einzug.
Die Früchte seiner Entscheidung erntet Nagelsmann nun. Denn, das zeigte sich schon bei beiden Generalproben, auf seine Spezialkräfte kann er sich verlassen. Beim ersten Spiel gegen die Ukraine kam der junge, temporeiche Maximilian Beier in die Partie und belebte das Offensivspiel des DFB-Teams merklich. Ähnlich war es mit der Einwechslung von Leroy Sané gegen Griechenland, der das schon angesprochene Tiefe-Problem lösen konnte. Und: Am Ende stach ein Joker - der eingewechselte Pascal Groß erzielte das späte 2:1.
Es ist nicht alles schlecht, Teil II
Klar, die beiden Partien luden nicht gerade dazu ein, jetzt in absoluter EM-Vorfreude zu verfallen. Die Chancenverwertung, der wankelmütige Manuel Neuer, das zeitweise behäbige Offensivspiel, die lässige Konterabsicherung: Das drückt alles auf die Fußball-Stimmung. Und doch gibt es einen großen und wichtigen Fortschritt: Es stimmen die Ergebnisse - und das ist ein gutes Signal.
Beim ersten Test gegen die Ukraine trafen die Nagelsmänner zwar nicht das Tor, doch die Mannschaft hörte nicht auf, weiter fleißig Chancen zu kreieren. Ähnliches gab es auch beim Griechenlandspiel zu beobachten: Nach einer grausigen ersten Hälfte kam das Team noch einmal zurück, drehte die Partie - und gewann. Vor allem im desaströsen Länderspieljahr 2023 zeigte sich da noch ein anderes Bild: Häufig brach die Nationalelf dann schnell ein. Nun scheint sie deutlich gefestigter zu sein.
Der wichtigste Moment kommt noch
Freitagabend. 21 Uhr. Die ausverkaufte Allianz Arena in München. Die UEFA hat gerade eine gigantische Pyroshow abgefeuert. Alle Debatten sind geführt, alle Argumente ausgetauscht. In der Luft liegt eine Vorfreude: Nach Monaten beginnt das Turnier endlich.
Für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist das Eröffnungsspiel der Heim-EM der wichtigste Moment der Gruppenphase. Eine überzeugende Leistung gegen Schottland, ein hoher Sieg vielleicht sogar - und alle Sorgen sind vergessen. Wenn es um die EM-Euphorie geht, wird das Auftaktspiel entscheidend sein. Das Team hat es selbst in der Hand.
Quelle: ntv.de